Digitale Blutspur

27. August 2014 • Qualität & Ethik • von

Es gibt keine Privatsphäre mehr. Ist das zu bedauern? Für die Medien sicher nicht.

Es ist eine Internetgeschichte wie aus dem Bilderbuch. Es geht um Facebook, um Selfies und um Amateur-Pornografie.

Facebook, Selfies und Amateur-Pornografie sind die drei aktuellen Megatrends im Internet. Bei Geri Müller, dem grünen Nationalrat und Stadtammann von Baden, kamen gleich alle drei Trends zusammen.

Auf Facebook lernte Politiker Müller eine 33-jährige Lehrerin kennen. Die beiden tauschten sich über ihre Handys aus. Schnell wurde der Ton schlüpfrig.

Dann trafen sich die beiden persönlich. Sie kamen sich nun nicht nur verbal, sondern auch sexuell näher. Der Ton war nicht mehr schlüpfrig, sondern wurde obszön.

Dann legte Müller die Latte höher. Er schickte der Lehrerin Dutzende von Selbstporträts, sogenannte Selfies. Auf manchen Bildern war seine Erektion zu sehen. In seinem Amtsbüro fotografierte er sich sogar bei den Freuden der Selbsterregung und schickte ihr das Material.

Auch sie sandte Selfies zurück. Die waren zwar nicht ganz so deftig wie Müllers Unterleib, aber jugendfrei waren sie auch nicht.

Dann eskalierte die Affäre zum Beziehungsdrama und wurde von der Schweiz am Sonntag enthüllt. Nun sagte Politiker und Pornograf Müller einen bemerkenswerten Satz. Er sagte: “Ich muss mir heute vorwerfen, darauf vertraut zu haben, dass Privates privat bleiben würde.”

Ich habe schon viele weltfremde Aussagen von Politikern gehört. Es war eine der weltfremdesten Aussagen, die ich seit Jahren gehört habe: “Privates bleibt privat.”

Geri Müller hat eine zentrale Veränderung dieser Welt und vor allem der Medienwelt nicht mitbekommen. Es gibt keine Intimsphäre mehr. Die Intimsphäre ist für heutige Journalisten ein juristisches Relikt aus alten Zeiten. Sie sind mit dem Internet aufgewachsen, einem gnadenlos öffentlichen Raum, in dem es nichts Privates mehr gibt.

Die Verletzung der Privatsphäre mag zwar weiterhin strafbar sein, aber eine Parkbusse ist schlimmer.

Noch bis weit in die neunziger Jahre hinein war das anders. Auf allen Redaktionen Zürichs wusste man zum Beispiel, dass TV-Moderator Kurt Aeschbacher homosexuell ist und mit einem Freund zusammenlebte. Niemand schrieb es, weil er das nicht wünschte.

Als zehn Jahre später Corine Mauch für das Zürcher Stadtpräsidium kandidierte, war solche Rücksichtnahme längstens kein Thema mehr. Mauch sagte freiwillig, dass sie lesbisch sei. Sie wusste, die Journalisten hätten es ohnehin geschrieben.

Zwischen Aeschbacher und Mauch liegt jenes Jahrzehnt, das die Medien mehr veränderte als die drei Jahrhunderte zuvor. Vor dem Jahr 2000 waren Journalisten Informationssucher. Dann wurden sie zu Informationsempfängern.

Journalisten erfuhren plötzlich mehr, als sie wissen wollten. Sie erfuhren es ohne Aufwand. Eine Suchmaschine genügte. In der digitalen Welt explodierte zwar nicht die Menge der Information. Aber es explodierten die Möglichkeiten des Zugangs zur Information. Was zuvor Expertenwissen war, wurde verfügbares Wissen. Was privat war, wurde öffentlich.

Privates wurde darum öffentlich, weil die neue Technik so verlockend ist. Man konnte in Sekundenschnelle seine Informationen der Welt vermitteln. “Send” heißt der Knopf, der aus Privatem Öffentliches macht. Die digital-intime Blutspur im Netz ist unauslöschbar.

Vor zehn Jahren wäre Geri Müller an den Postschalter gegangen. In einem adressierten Couvert hätte er Nahaufnahmen seiner erigierten Männlichkeit mitgeführt, adressiert an eine Lehrerin. “A- oder B-Post?”, hätte das Postfräulein gefragt.

Geri Müller hätte vermutlich gesagt: “Ich muss mir das nochmals überlegen.”

Erstveröffentlichung: Die Weltwoche vom 21. August 2014

Bildquelle: Unsplash / Pixabay.com

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