Mit der Fluchtbewegung aus der Ukraine kamen 2022 mehr Menschen nach Deutschland als während der „Flüchtlingskrise“ 2015. Trotzdem wurde der öffentliche Diskurs über Geflüchtete von Beobachter:innen anders – häufig positiver – wahrgenommen. Eine aktuelle Analyse der Bild-Zeitung geht der Frage nach, ob tatsächlich messbare Unterschiede zwischen der Fluchtberichterstattung 2015 und 2022 bestehen – und wenn ja, welche. (Die Zeitung hatte sich 2015 und in den Folgejahren besonders kritisch zu Einwanderung geäußert.)
Rund eine Million Menschen: So viele suchten im Jahr 2022 infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine Zuflucht in Deutschland (BMI, 2023). Damit wurden 2022 allein aus der Ukraine mehr Menschen aufgenommen als insgesamt im Jahr 2015 – dem Jahr, in dem oft von einer „Flüchtlingskrise“ gesprochen wurde (BAMF, 2016). Trotzdem äußerten Beobachter:innen schnell den Eindruck, dass die Berichterstattung über Geflüchtete 2022 auffallend positiver war als infolge der Fluchtbewegung 2015. Damals haben die Medien zum Teil eher ambivalent – und seit der Silvesternacht 2015/2016 eindeutig negativ über Geflüchtete berichtet – und den Fokus insbesondere auf die politischen Aspekte der Zuwanderung gelegt (Fengler et al., 2018; Hestermann, 2020; Maurer et al., 2023). Als Akteure spielten geflüchtete Menschen lediglich eine untergeordnete Rolle (vgl. Haller, 2017; Fengler & Kreutler, 2020; Maurer et al., 2023).
Die Diskussion um diese Unterschiede war der Anlass für die nachfolgende quantitative Inhaltsanalyse, die der Frage nachging, ob sich diese – bis dato noch nicht wissenschaftlich bestätigte – Vermutung auch empirisch bestätigen lässt. Um das herauszufinden, wurde die Berichterstattung der Bild-Zeitung in den Jahren 2015 und 2022 analysiert und systematisch miteinander verglichen. Dabei wurde die Bild-Zeitung als Untersuchungsobjekt ausgewählt, weil sie zum einen als auflagenstärkste deutsche Tageszeitung ein sehr großes Publikum erreicht. Zum anderen fiel die Boulevardzeitung bereits 2015 und in den Folgejahren durch eine kritische und negativ geprägte Berichterstattung über Geflüchtete auf (Maurer et al., 2018). Da Forschende wie Esses et al. (2013) sowie Eberl et al. (2018) davon ausgehen, dass auch die Medien einen großen Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geflüchteten haben, ist es wichtig, reichweitenstarke Medien wie die Bild regelmäßig wissenschaftlich zu untersuchen.
Das geschah im Frühjahr 2024 unter dem Titel „Flucht damals und heute: Eine vergleichende quantitative Inhaltsanalyse der Bild-Berichterstattung über Geflüchtete in den Jahren 2015 und 2022“. Im Rahmen einer Bachelorarbeit wurden 200 Artikel codiert, die in insgesamt zwölf Untersuchungswochen veröffentlicht wurden. Um die Ergebnisse so gut wie möglich miteinander vergleichen zu können, wurde sich dafür entschieden, die Berichterstattung im Jahr 2015 nochmal zu untersuchen – auch, wenn dieser Zeitraum bereits Objekt mehrerer Studien war. Die Bachelorarbeit analysierte also sowohl die Fluchtberichterstattung der Bild-Zeitung im Jahr 2015 als auch im Jahr 2022, wobei insbesondere die Kategorien Themen, Akteure, Frames und die Rolle der Geflüchteten von Interesse waren.
Dabei haben die Ergebnisse gezeigt, dass große Differenzen zwischen der Fluchtberichterstattung während der „Flüchtlingskrise“ 2015 und nach der Ankunft der ukrainischen Geflüchteten im Februar 2022 bestehen. Die deutlichsten Unterschiede konnten dabei mit Blick auf die Akteure, Themen und Medienframes festgestellt werden.
Themen der Fluchtberichterstattung 2015 und 2022
Während sich die Ergebnisse für das Jahr 2015 weitgehend mit dem bisherigen Forschungsstand deckten und erneut die starke Politikzentrierung der damaligen Berichterstattung bestätigten, war 2022 ein ganz anderes Bild zu beobachten. Politische Themen spielten eine deutlich geringere Rolle. So wurde Flüchtlingspolitik, die 2015 im Schnitt das Hauptthema jedes vierten Artikels war, im Jahr 2022 nur noch in neun Prozent der analysierten Beiträge als solches festgestellt. Stattdessen dominierten die Themen Flüchtlingshilfe sowie die Situation der Geflüchteten die Berichterstattung der Bild-Zeitung und machten mit zusammengerechnet 49 Prozent fast die Hälfte der Hauptthemen aus. Zum Vergleich: 2015 wurden die beiden Themen in nur 23 Prozent der Fälle als Hauptthema erhoben. Mit 15 Prozent spielten damals die Herausforderungen im Kontext der Fluchtbewegung noch eine größere Rolle (2022: zehn Prozent).
Akteure der Fluchtberichterstattung 2015 und 2022
Auch, was die Akteure der Berichterstattung angeht, waren deutliche Unterschiede zwischen den beiden Jahren zu beobachten. So tauchten Geflüchtete im Jahr 2022 deutlich häufiger als Hauptakteure auf als noch im Jahr 2015 (Zunahme um acht Prozent). Damals stellten – analog zum thematischen Schwerpunkt – Politiker*innen mit 41 Prozent die häufigsten Hauptakteure dar, was erneut die Politikzentrierung der Fluchtberichterstattung 2015 unterstreicht. 2022 waren diese nur noch in 25 Prozent der analysierten Artikel als Hauptakteure erkennbar. Eine auffällige Veränderung war auch bei Privatpersonen als Akteure zu beobachten: Während diese 2015 nur in fünf Prozent der Fälle im Fokus standen, drehten sich 2022 gleich 21 Prozent der Artikel hauptsächlich um sie. Der Grund für diese überraschende Veränderung wird darin vermutet, dass die Bild-Zeitung 2022, wie zuvor beschrieben, deutlich häufiger über Flüchtlingshilfe berichtet hat und vor diesem Hintergrund auch Privatpersonen, die sich engagieren oder Geflüchtete aufnehmen, eine größere Rolle gespielt haben könnten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Berichterstattung der Bild-Zeitung im Jahr 2022 um einiges „näher“ an den Geflüchteten war als im Jahr 2015. Statt den Fokus auf die politischen Aspekte der Fluchtbewegung zu legen, stellte sie die Situation der Menschen und damit verbundene Hilfsaktionen in den Vordergrund.
Medienframes der Fluchtberichterstattung 2015 und 2022
Diesen Eindruck bestätigen auch die Ergebnisse der Frame-Analyse. So machten 2022 der Unterstützungsframe und der Empathieframe fast zwei Drittel der identifizierten Frames aus. Diese impliziten Bewertungsrahmen wurden dann erhoben, wenn sich ein Artikel mit Hilfsaktionen sowie der Solidarität für Geflüchtete beschäftigte (Unterstützungsframe) oder der Fokus auf persönliche Schicksale und Geschichten der Geflüchteten gelegt wurde (Empathieframe). Zum Vergleich: 2015 stellten diese nicht mal ein Drittel der codierten Frames dar. Stattdessen war damals eine stärkere Ausprägung des Krisen- und Kapazitätsframes zu beobachten, die sich mit den Problemen und Herausforderungen durch Geflüchtete (Krisenframe) sowie der mangelnden Aufnahmekapazitäten (Kapazitätsframe) beschäftigen. Für das Jahr 2015 bestätigte sich die Erkenntnis von Maurer et al. (2023), dass Geflüchtete in der damaligen Berichterstattung ambivalent geframet wurden: So wurden geflüchtete Menschen quasi in einem Artikel auf empathische Weise als Menschen in Not charakterisiert, während im nächsten Beitrag von ihnen als Belastung und Krisenfaktor für die Aufnahmegesellschaft gesprochen wurde. Im Jahr 2022 kann von einer ambivalenten Darstellung keine Rede sein, da Geflüchtete während dieses Untersuchungszeitraums überwiegend als hilfsbedürftige Kriegsflüchtlinge und im Rahmen von Hilfsaktionen abgebildet wurden. Diese Unterschiede spiegeln sich auch in der erhobenen Frame-Tendenz wider: So hat die Bild-Zeitung Geflüchtete 2022 deutlich positiver bewertet als 2015.
Rolle der Geflüchteten in der Fluchtberichterstattung 2015 und 2022
Anhand der Kategorie Rolle der Geflüchteten sollte untersucht werden, ob und wie häufig Geflüchtete in der Berichterstattung zu Wort kommen. Obwohl diesbezüglich ebenfalls ein deutlicher Unterschied zwischen 2015 und 2022 erwartet wurde, konnten in der Datenauswertung nur geringe Differenzen festgestellt werden. Sowohl 2015 als auch 2022 kamen Geflüchtete in über 80 Prozent der analysierten Artikel kein einziges Mal zu Wort. Die Marginalisierung der Geflüchteten als Sprecher in der Berichterstattung, die bereits zuvor von mehreren Forschenden festgestellt wurde (vgl. Fengler & Kreutler, 2020; Hestermann, 2022; Haller, 2017; Maurer et al., 2018), bestand 2022 also weiterhin.
Fazit
Die durchgeführte Inhaltsanalyse konnte aufzeigen, dass die eingangs erwähnte Beobachtung einer veränderten, positiveren Berichterstattung im Jahr 2022 nicht nur ein subjektiver Eindruck, sondern tatsächlich empirisch belegbar ist. Gleichzeitig muss jedoch angemerkt werden, dass die Gründe für diese Veränderung weiterhin offen sind. Durch den begrenzten Umfang der Bachelorarbeit konnte nicht untersucht werden, warum die Bild-Zeitung 2022 anders über Geflüchtete berichtete als noch 2015. Zwar wurden im Rahmen der Analyse einige Vermutungen aufgestellt – so könnte beispielsweise die bessere Zugänglichkeit und kulturelle Nähe zu den Geflüchteten eine Rolle gespielt haben – empirisch untersucht und bestätigt wurden diese jedoch nicht. Das wäre jedoch mit Blick auf zukünftige Studien wünschenswert, um Ergebnisse wie diese zu erklären. Da wir auch in Zukunft mit neuen Krisen und dadurch potenziellen neuen Fluchtbewegungen rechnen müssen, ist es wichtig, den medialen Diskurs über Flucht und Migration weiter zu beobachten und zu analysieren. Erst wenn wir wissen, wovon die Berichterstattung über Geflüchtete abhängt, ist es möglich, eine Diskriminierung gegenüber bestimmten Gruppen aufzudecken – oder die Vorwürfe einer solchen gegebenenfalls zu entkräften.
Anmerkung: Zur besseren Lesbarkeit wurde in der Bachelorarbeit sowie in dem vorliegenden Bericht hauptsächlich das generische Maskulinum verwendet. Die verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich jedoch – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter und sollen keine Benachteiligung des weiblichen oder dritten Geschlechts darstellen.
Literatur:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016, 14. Dezember). Migrationsbericht 2015. Abgerufen am 02.02.2024 von https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Migrationsberichte/migrationsbericht-2015.html?nn=403964
Bundesministerium des Innern und für Heimat (2023, 11. Januar). Acht von zehn Schutzsuchenden kommen aus der Ukraine. Abgerufen am 02.02.2024 von https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/01/asylantraege2022.html
Fengler, S., Bastian, M., Brinkmann, J. & Zappe, A.C. (2018). Die „Flüchtlingskrise“: Ethnische Herausforderungen für Medien in Europa und Afrika – Migrationsberichterstattung in 11 afrikanischen und europäischen Ländern. In M. Prinzing, N. Köberer & M. Schröder (Hrsg.), Migration, Integration, Inklusion: Medienethische Herausforderungen und Potenziale für die digitale Mediengesellschaft (S. 39-52). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
Fengler, S., Kreutler, M. (2020). Stumme Migranten, laute Politik, gespaltene Medien: Die Berichterstattung über Flucht und Migration in 17 Ländern. Frankfurt am Main: Otto Brenner Stiftung.
Haller, M. (2017). Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Frankfurt am Main: Otto Brenner Stiftung.
Hestermann, T. (2020). Die Unsichtbaren. Eine Expertise für den Mediendienst Integration. Abgerufen am 14.11.2023 von https://ec.europa.eu/migrant-integration/sites/default/files/2020-07/Expertise_Hestermann_Die_Unsichtbaren.pdf
Hestermann, T. (2022). Zwischen Stürmerstars und Gewalttätern. Die Berichterstattung über Eingewanderte und Geflüchtete. Abgerufen am 14.11.2023 von https://ec.europa.eu/migrant-integration/system/files/2022-01/Medienanalyse_Hestermann_Berichterstattung_Migration_2022_Mediendienst.pdf
Maurer, M., Jost, P., Haßler, J., Kruschinski, S. (2018). Auf den Spuren der Lügenpresse. Zur Richtigkeit und Ausgewogenheit der Medienberichterstattung in der „Flüchtlingskrise“. Publizistik, 64 (1), 15-35. https://doi.org/10.1007/s11616-018-00466-y
Maurer, M., Jost, P., Kruschinski, S. et al. (2023). Inkonsistent einseitig. Die Medienberichterstattung über Geflüchtete 2015-2020. Publizistik 68, 13–35. https:// doi.org/10.1007/s11616-022-00769-1
Eberl, J.M., Meltzer, C.E., Heidenreich, T., Herrero, B., Theorin, N., Lind, F., Berganza, R., Boomgarden, H.G., Schemer, C. & Strömbäck, J. (2018). The European media discourse on immigration and its effects: a literature review. Annals of the International Communication Association, 42 (3), 207-223.
Esses, V.M., Medianu, S. & Lawson, A.S. (2013). Uncertainty, Threat, and the Role of the Media in Promoting the Dehumanization of Immigrants and Refugees. Journal of Social Issues, 69, 518-536. https://doi.org/10.1111.josi.12027
Schlagwörter:Berichterstattung, Bildzeitung, Einwanderung, Migreationsberichterstattung