“Es ging ein Aufschrei durch den Raum…”

19. Juli 2022 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

In Krisenzeiten zählen Wahrheit, Kompass, Distanz und journalistisches Basiswissen für jede(n) noch mehr als sonst.

“Es ging ein Aufschrei durch den Raum, alle haben gleichzeitig auf mich eingeredet, was mir denn einfalle”, schilderte ein Schulleiter, was er im privaten Kreis erlebte, als er sich skeptisch über den Nutzen weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine äußerte. Auch bei vielen öffentlichen Debatten irritiert, wie heftig sie geführt werden und wie eindimensional oft Position bezogen wird. Es offenbart sich zweierlei: Die Wirkung jener Medien, die sich freiwillig in eine Schieflage begeben, sowie Nachholbedarf in Krisen- und Medienkompetenz. Eine gelingende Auseinandersetzung mit Krieg, Pandemie und anderen Herausforderungen braucht vier stabile Säulen: Wahrheit, Kompass, professionelle Distanz und eine krisen- und medienkompetente Gesellschaft. Daran müssen wir arbeiten.

1. Journalismus muss in Grundsatzfragen nicht neutral sein, sondern Partei ergreifen – wenn etwa die Säulen des demokratischen Grundverständnisses ausgehöhlt werden, und solidarisch sein mit jenen, deren Menschenrechte verletzt werden oder deren Land, wie jetzt die Ukraine, völkerrechtswidrig angegriffen wird. Aber es besteht kein Grund, das journalistische Distanz- und Differenzierungsprinzip über Bord zu werfen. Genau dieses Prinzip ermöglicht im Verbund mit empathischer Nähe das, was Menschen nachweislich von Medien erwarten: ein sachgerechtes Bild des Geschehens, der Hintergründe und der Folgen.

Das geschieht auch. Aber es gibt zudem irritierende Schlagseiten. Etliche Journalistinnen und Journalisten in Deutschland benehmen sich freiwillig wie ein Sprachrohr der ukrainischen Politik. In vielen Talkshows und Medienkommentaren sind Einwände gegen den Kurs, den sich die Ukraine vom Westen wünscht, nahezu tabu; wer kritisiert, muss mit schweren verbalen Angriffen rechnen. Haben etliche daher Angst davor, gegen den Strom zu kommentieren? Sind viele Medien im Solidaritätsrausch? Aktivistisch? Vernachlässigen sie ihre eigentliche Rolle, ihre Frühwarnfunktion (z.B. vor Eskalationsrisiken bis hin zum Atomschlag)? Vergessen viele, dass deutsche Politik ihr Handeln der deutschen Bevölkerung gegenüber verantworten muss? Die Antworten auf die tatsächlichen Absichten lassen sich nur vermuten (beziehungsweise mittels vergleichender Interviews mit den betreffenden Personen erforschen). Sich solche Fragen zu stellen, kann aber Schieflagen bewusst machen sowie zurechtrücken. Gelingende Kriegsberichterstattung ist weder Kriegstreiberei noch Friedensaktivismus. Die Ukraine ist moralisch im Recht. Das erzeugt Solidarität. Professionelle Distanz ist aber kein Widerspruch zur humanitären journalistischen Solidarität, sondern ein Gebot der Professionalität.

2. Journalismus verlangt ein permanentes Ringen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Im Krieg ist die damit verbundene Verantwortung besonders hoch, weil Konfliktparteien jeweils nur ihre eigenen Wahrheiten durchsetzen wollen und Propaganda treiben. Es braucht Sachgerechtigkeit (stimmt eine Information, ein Bild, ein Video? Lässt es sich prüfen?), Hartnäckigkeit (wie ist dies oder jenes zu verstehen, wie einzuordnen, welche weitere Expertise braucht es? Kann man es auch anders sehen?) sowie Orientierung (also einen ethischen Kompass), um sich im Kampf um die Wahrheit zu behaupten.

3. Um auf Kurs zu bleiben, muss man VOR der Veröffentlichung einen ethischen Kompass anlegen, wie ihn beispielsweise der Pressekodex bereithält, und abwägen, was zugemutet werden muss und warum. Die meisten Medien in Deutschland haben sehr viel richtig gemacht. Sie waren sensibel im Umgang mit Bildern etwa von Menschen, die durch Putins Kriegsverbrechen starben, und haben ihrem Publikum gegenüber begründet, weshalb sie diese zeigten.

4. Journalismus ist gefordert als kontinuierliche Trainingsinstanz für Krisen- und Medienkompetenz. Zentralschlüssel für ein robustes, also resilientes Leben, ist Informiertheit. Sie macht alltags- und krisentauglich. Doch es besteht nachweislich eine durchgängige breite Wissenslücke der Bevölkerung im Umgang mit Medien und Krisen, beginnend im schulischen Bereich (dort auch bei den Lehrkräften). Eigentlich müsste da die Politik, wie vielfach gefordert, längst einen verbindlichen Rahmen setzen. Immerhin entstanden in den letzten Jahren hilfreiche Initiativen: Die Nichtregierungsorganisation «Reporter ohne Grenzen“ erklärt, was Pressefreiheit meint und wie sie uns konkret nützt. Etliche mediale Faktencheckinitiativen bieten Tipps an, wie man sich vor groben Manipulationen schützt. ThinkTanks wie “First Draft” (seit Juni “Futures Lab”) sind u.a. Anti-Desinformationsprojekte bei rund 20 Wahlen international zu verdanken. Die Fachgesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) hat einen Test entwickelt, der die Digitalmedienkompetenz prüft, eine Forschergruppe einen Nachrichtenkompetenz-Selbsttest (samt Studie). Das Projekt “Journalismus macht Schule” will mit Informationen aus erster Hand die Nachrichtenkompetenz stärken und vermittelt Schulbesuche von Journalisten und Journalistinnen, entwickelt aber auch Lehrmaterialien. Doch es braucht überdies eine kontinuierliche Instanz für Medien- und Krisenkompetenz. Journalistisches Basishandwerk ist eine Kulturtechnik wie Lesen, Rechnen und Schreiben, und sie lässt sich besonders gut von den Profis lernen: von den Journalisten und Journalistinnen. In Krisenzeiten ist dies wichtiger denn je. Etliche Studien, zuletzt auch zum Ukrainekrieg, belegen, dass die Neigung von Menschen, negativen Nachrichten aktiv auszuweichen, wächst, weil sie sie verunsichern und weil ihnen Vorwissen fehlt; besonders ausgeprägt ist dies unter den 18- bis 24-jährigen. Der psychologische Effekt ist bekannt: Je mehr man über eine schwierige Situation weiß, desto besser kann man mit ihr umgehen und neue Information zu ihr verarbeiten. Und wer weiß, wie Tiktok funktioniert, liefert sich weniger schnell dem Algorithmus blindlings aus. Genau hier kann professioneller Journalismus aktiv Grundfertigkeiten vermitteln. Den wohl ersten Impuls in diese Richtung gab der britische Forscher John Hartley, der im Jahr 2000 die These aufstellte, dass in einer demokratischen Gesellschaft jeder auch journalistische Kompetenzen braucht. Die digitale Technik hat die Mediennutzenden auch zu Inhalte Produzierenden gemacht. Auch das macht klar: Wir alle müssen etwas Journalismus können.

Erstveröffentlichung: Tagesspiegel.de vom 17.07.2022; der Text wurde für das EJO in Absprache mit der Autorin leicht modifiziert.

Bild: pixabay

 

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