Gefährliche Einheitsfronten bei Skandalen

25. Januar 2002 • Qualität & Ethik • von

Neue Zürcher Zeitung, 25. Januar 2002

Wenn Medien in Krisensituationen versagen
Kommunikationsforscher wie Barbara Baerns und René Grossenbacher haben Mitte der 80er Jahre belegt, wie stark das Alltagsgeschäft im Journalismus von Zulieferungen der Öffentlichkeitsarbeit bestimmt wird. Seither gehört es zu den gerne kultivierten Mythen, dass der Journalismus zumindest im Ausnahmezustand seinen öffentlichen Auftrag erfüllt, also in Krisensituationen gründlich recherchiert und erfolgreich Skandale aufdeckt. Die Medien sollten diese Kritik- und Kontrollfunktion erfüllen, damit die checks and balances wechselseitiger Machtbegrenzung in der Demokratie funktionieren. Diesen Mythos hat nun allerdings Hans Mathias Kepplinger gründlich zerstört.

Der Mainzer Medienwissenschaftler hat sich die Mühe gemacht, eine ganze Serie bundesdeutscher Skandale nochmals zu beleuchten, um herauszufinden, welche Rolle die Medien bei der Skandalisierung gespielt haben. Das Ergebnis ist alles andere als schmeichelhaft für die sogenannte «vierte Gewalt». Aus der Distanz betrachtet, werde in Skandalen zwar «die Wahrheit, der Kern der Sache, meist erkennbar», sie besitze aber oft keine Chance. «Die Wahrheit geht während des Skandal in einer Welle krass übertriebener oder gänzlich falscher Darstellungen unter», so Kepplinger.

Bei der Erklärung, warum das so ist, verfällt der Forscher nicht einfach in Journalistenschelte. Vielmehr sei die «Art und Weise, wie wir in Situationen mit grosser Unsicherheit kommunizieren», für das niederschmetternde Ergebnis verantwortlich. «Beschreiben mehrere Personen in einer Gruppe nacheinander ihre Beobachtungen, gleichen sich ihre Urteile schnell an, weil eine Gruppennorm, eine in der Gruppe allgemein akzeptierte Sichtweise entsteht.» Das gilt aus Kepplingers Sicht auch für Journalisten.

Stets gehe es in der Medienberichterstattung zwar um «objektive Tatsachen» – beispielsweise im Konflikt zwischen Shell und Greenpeace um die Versenkung der Brent Spar um die Existenz von Schadstoffen in der Bohrinsel. Die Richtigkeit dieser Informationen sei jedoch nicht nachprüfbar, weil die dafür erforderlichen Daten oder Fachkenntnisse fehlten. So sei damals einige Tage lang unklar gewesen, wie viel Schadstoffe in der Ölplattform tatsächlich lagerten. Auch in anderen Skandalen hätten typischerweise zunächst wesentliche Informationen zur Lagebeurteilung gefehlt. Bei einem grossen Störfall in den Farbwerken Hoechst sei umstritten gewesen, welche Gefahr von ortho-Nitroanisol ausging; im Spendenskandal der CDU habe man nicht gewusst, welche Verbindungen zwischen den anonymen Spenden an Kohl und anderen Finanzierungspraktiken der Partei bestanden hätten. Ebenso wenig sei klar gewesen, ob der skandalisierte Fussballtrainer Daum tatsächlich Kokain geschnupft hatte, und ob der Tod des sechsjährigen Joseph in Sebnitz rechtsradikalen Gewalttätern zuzuschreiben sei.

Gemeinsam sei all diesen Fällen, dass sich angesichts der bestehenden Unsicherheiten «im Zusammenspiel zahlreicher Quellen Urteilsnormen bzw. Schemata» bildeten, welche «die Wahrnehmung der Missstände steuern». Die Urteilenden würden dabei zu Opfern eines «essentialistischen Trugschlusses»: Was sie «für ihr Urteil über die Natur der Sache halten, ist in Wirklichkeit Ausdruck einer gruppen- oder landesspezifischen Sichtweise». Um die Etablierung solcher Sichtweisen gehe es bei der Skandalierung – und nicht etwa um «Urteile über eng umgrenzte Sachverhalte» oder gar um deren Aufklärung. Typisch sei stattdessen deren Dramatisierung und – oft masslose – Übertreibung.

Als ein noch gut erinnerbares Beispiel nennt Kepplinger die Skandalierung der BSE-Infektion in Deutschland im letzten Winter. Die Medien hätten wochenlang «erschreckende und ekelerregende Bilder von kranken und toten Tieren in den Nachrichten, Magazinen und Sondersendungen» gezeigt. Ausgiebig sei «das grauenhafte Schicksal von Menschen, die an der mit BSE verwandten Version der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (vCJK) leiden, dokumentiert» worden. Die «alles entscheidende Frage» sei jedoch nicht gestellt worden oder in der Flut der Bilder untergegangen: «Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand an vCJK erkrankt, angesichts der Tatsache, dass weniger als 0,01 Prozent der getesteten Rinder BSE hatten und die Gefahr einer Übertragung auf Menschen sehr gering ist.» Kepplinger zufolge hätte die Antwort darauf lauten können: «Es ist gefährlicher zu heiraten als Rindfleisch zu essen, weil man eher vom eigenen Lebenspartner ermordet wird, als dass man durch Rindfleisch ums Leben kommt.»

Der Forscher weist allerdings auch darauf hin, dass bei vielen Skandalen die Dramatisierungen nicht von den Medien selbst kommen. Diese übernähmen sie vielmehr «von Wortführern im vormedialen Raum». Dies stiess dann allerdings unter den Journalisten eher auf gläubige Nachbeter als auf skeptische Rechercheure. Und dann sorge alsbald eine «intensive Orientierung der Kollegen aneinander» dafür, dass ein Fall Eigendynamik entfalte und sich zum Skandal verselbständige: «Die Kollegen werden zu Quellen, zu Bezugspunkten und zu Kronzeugen der Kollegen.» Bei jedem Skandal gebe es im Journalismus «wenige Wortführer, einige Mitläufer, viele Chronisten und kaum Skeptiker.» Letztere misstrauten den «allgemein verbreiteten Sichtweisen», seien aber «eine verschwindend kleine Minderheit, die innerhalb und ausserhalb des Journalismus kaum Gehör findet». Im Gegenteil, wer sich im Skandal der «Einheitsfront der Skandalgläubigen» und damit der öffentlichen Meinung widersetze, werde «mundtot gemacht oder, falls dies nicht möglich ist, ausgegrenzt».

Gemeldet werde, «was glaubhaft erscheint». Entscheidend in solchen Situationen sei jedoch «nicht die Richtigkeit, sondern die Stimmigkeit der Information mit dem etablierten Schema». Dass dies so ist, werde dann offensichtlich, wenn «beides auseinander klafft – wie bei den falschen, übertriebenen oder irreführenden Angaben über die Ölrückstände in der Brent Spar, über die Krebsgefahr bei ortho-Nitroanisol und über die öffentliche Ermordung des kleinen Joseph.» Alle Skandale weisen, so Kepplinger, «totalitäre Züge» auf: «Sie zielen auf die Gleichschaltung aller, weil die öffentliche Abweichung einiger den Machtanspruch der Skandalierer und ihrer Anhänger in Frage stellen würde.» Die grossen Skandale könne man deshalb auch als «demokratische Variante von Schauprozessen betrachten.»

Erst nach dem Ende von Skandalen erschienen in Qualitätszeitungen dann gelegentlich distanzierte Analysen. Sie würden die Massen jedoch nicht erreichen und im Gegensatz zu den Skandalberichten dort keine erkennbaren Spuren hinterlassen. Die Mehrheit der Bevölkerung glaube «am Ende nicht das, was erwiesen ist, sondern das, was sie vorher überall massenhaft gelesen, gehört und gesehen hat». Die grossen Skandale seien deshalb auch meist die Ursache von grossen Kollektiv-Irrtümern: Die Mehrheit kehre nach einiger Zeit nicht deshalb zu ihren Gewohnheiten zurück, weil sie die Wahrheit nun kenne, sondern weil sie das, was sie noch immer für die Wahrheit halte, nicht mehr ernst nehme. «Also tanken die Leute wieder bei Shell, essen Rindfleisch und wählen die CDU.»

Es ist absehbar, dass Kepplingers Kritik in den Redaktionen wenig Freude auslösen dürfte. Man wird dort den schwarzen Peter schnell weiterreichen – sei es an die PR-Zulieferer, die mit Skandalierungen ihr Süppchen kochen, sei es an jenen Grossteil des Publikums, der jeden Skandal auskostet und ja offenbar Vieles auch gar nicht genauer wissen will.

Was in Kepplingers Darstellung noch fehlt, ist wenigstens eine überschlagsweise Kalkulation der Folgeschäden, welche die Medien aufgrund ihrer oftmals eben doch verantwortungslosen Berichterstattung verursachen. Immerhin lässt er keinen Zweifel, dass «einige Medien in kurzer Zeit konkursreif» wären, gäbe es «eine Produkthaftung für Skandalberichte». Er fügt allerdings auch ausdrücklich hinzu, dass «diese nicht wünschenswert wäre».

Hoffen lässt immerhin, dass neuerdings zumindest gelegentlich auch Medien selbst skandaliert werden. Erinnert sei an die gefälschten Interviews mit Hollywood-Stars, die der Schweizer Journalist Tom Kummer dem «Tages-Anzeiger» und dem Magazin der «Süddeutschen Zeitung» angedreht hat. Wenn dann im Gefolge solcher Presseskandale eben auch Chefredakteure und Medienmanager am eigenen Leibe erfahren müssen, wie gnadenlos und blindwütig die Medienmaschinerie mit Berichterstattungs-Opfern umgeht – dann könnte es ja doch sein, dass sie solchen Skandalierungen ein Ende zu bereiten versuchen. Dann könnten Wahrheitsliebe und unvoreingenommene Recherche auch bei der Skandal-Berichterstattung vielleicht wieder den Stellenwert erhalten, der ihnen derzeit leider vorwiegend in Sonntagsreden und in Ethik-Kapiteln von Journalismus-Lehrbüchern zukommt.

 

Hans Mathias Kepplinger: Die Kunst der Skandalierung und die Illusion der Wahrheit, München: Olzog Verlag 2001.

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