Was sagt ein Journalist, wenn er nicht mehr weiterweiß? Er sagt: „Jetzt ist die Politik gefordert.“ Eine Kolumne.
Nehmen wir zum Beispiel die Chaoten, die in Bern randalieren. „Jetzt ist die Politik gefordert“, kommentiert der Blick.
Nehmen wir die Existenzsorgen der Bauern. „Jetzt ist die Politik gefordert“, kommentiert die Aargauer Zeitung.
Nehmen wir die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank. „Jetzt ist die Politik gefordert“, kommentiert der Tages-Anzeiger.
Und was ist mit dem Tunnel von Oberdorf nach Gänsbrunnen? „Jetzt ist die Politik gefordert“, kommentiert die Solothurner Zeitung.
Wir wollen uns heute nicht über Journalisten lustig machen. Darum verzichten wir auf weitere heitere Beispiele.
Wir wenden uns stattdessen anderen Instanzen zu. „Der Bundesrat ist gefordert“, lesen wir ähnlich häufig. Gefordert ist er vom Waffenexport (SRF) bis zu den Unternehmenssteuern (Der Bund). „Das Parlament ist gefordert“, lesen wir ähnlich häufig. Gefordert ist es vom Moorschutz (Berner Zeitung) bis zur AHV-Finanzierung (Handelszeitung).
„Gefordert“ sind in der Presse permanent auch die Kantone, die Gerichte, der Stimmbürger und der Staat. Extra hübsch sind dabei die Multiplex-Forderungen. Zur wachsenden Staatsquote der Schweiz etwa wusste die NZZ: „Parteien, Regierung und Parlament sind gefordert.“
Nochmals: Wir wollen uns nicht über Journalisten lustig machen. Wir reden vom Medienwandel und vom Wandel journalistischer Kultur. Als vor rund zwölf Jahren die Leserzahlen der Zeitungen massiv einzubrechen begannen, mussten die Redaktionen einen neuen Daseinszweck ersinnen. Warum brauchte es ihre Blätter noch?
Die Medienbranche einigte sich als Daseinsberechtigung auf das Wortpaar „Einordnung und Orientierung“.
Die Aufgabe von Journalisten war es nun, die laufenden Ereignisse in die großen geopolitischen, historischen und soziologischen Zusammenhänge einzuordnen und so dem verwirrten Leser feste Orientierung zu bieten. Zeitungen mussten dadurch auf einmal unglaublich intelligent und intellektuell daherkommen. Als Folge davon explodierten die Kommentar- und Analysespalten. Das Problem war nur, dass all die unglaublich intelligenten und intellektuellen Kommentare und Analysen von den gleichen Journalisten geschrieben werden mussten, die zuvor ihrem normalen News-Handwerk nachgegangen waren. Wenn es die Journalisten überhaupt noch gab. Denn zugleich wurden, krisenbedingt, die Redaktionsbestände reduziert.
Dennoch las man noch nie so viele Kommentare und Analysen wie heute. Beim neuen Berufsideal der permanenten Einordnung und Orientierung muss täglich nachgelegt werden.
Wenn man als Kommentator aber ein Thema nicht durchdringt, und das ist natürlich häufig der Fall, dann flüchtet man in einen Kartentrick. Man verlangt von anderen, dass sie das Thema durchdringen. Man schreibt dann: „Jetzt ist die Politik gefordert.“ Oder man schreibt: „Der Bundesrat ist gefordert.“ Oder man schreibt: „Das Parlament ist gefordert.“
Gefordert ist schnell, und so können Journalisten zumindest ein wenig verwedeln, wie überfordert sie oft sind. Die hochstilisierte Vorgabe nach dauernder Einordnung und -Orientierung überfordert letztlich alle Redaktionen. Sie produzieren zwar mehr Kommentare denn je, aber notgedrungen auch mehr dürftige Kommentare denn je.
Ein letztes Beispiel aus dem eigenen Themenbereich. In der NZZ erschien ein Artikel, wonach die Schweizer Presse die zugewanderten Ausländer schlecht erreiche. Der wenig erstaunliche Kommentar der NZZ dazu: „Die Medien sind gefordert.“
Erstveröffentlichung: Die Weltwoche vom 19. Oktober 2017
Bildquelle: Screenshot Blick.ch
Schlagwörter:Analysen, Kommentare, Politik, Schweiz