Gewissen des Journalismus

9. Dezember 2005 • Qualität & Ethik • von

Neue Zürcher Zeitung, 9. Dezember 2005

Was Ombudsleute leisten können
Noch sind Ombudsleute in der Medienbranche eine rare Spezies. Doch ihre Zahl wächst im Zeichen der Versuche, die Glaubwürdigkeit der Medien zu stärken. In den USA traten jüngst zwei Ombudsmänner ab, die das Ansehen dieser Institution stärkten.

In der Schweiz gibt es Ombudsleute – dank einer gesetzlichen Regelung – zahlreich bei Radio und Fernsehen, aber sie bleiben nahezu unsichtbar. In den Vereinigten Staaten dagegen sind sie eher bei Zeitungen zu finden, zwar auch nur bei drei Dutzend der rund 1500 Titel, aber einige entfalten beträchtliche öffentliche Wirkung. Aufgabe der Ombudsleute ist es, Beschwerden des Publikums aufzugreifen und als Mediatoren zwischen den Klagenden und der Redaktion zu wirken. Diese Vermittler sind in den USA oft zugleich Kolumnisten, die – einmal pro Woche oder je nach Bedarf – im eigenen Blatt Stellung beziehen und manchmal Redaktoren und auch deren Chefs das Fürchten lehren. Aus einer Serie von Skandalen, in die US-Medien in jüngster Zeit verwickelt waren, sind sie eher gestärkt hervorgegangen.

Rücktritt zweier wichtiger Ombudsleute

Zwei von ihnen geniessen in der US-Medienbranche ein Ansehen, das weit über das vieler Chefredaktoren hinausreicht. In beiden Fällen, bei der «New York Times» und der «Washington Post», erfolgte vor kurzem eine Wachablösung. Bei der «New York Times» wurde Daniel Okrent von Byron Calame abgelöst – der Nachfolger musste sich gleich zu Beginn seines Mandats mit dem ziemlich undurchschaubaren Skandal um die Reporterin Judith Miller auseinandersetzen, welche inzwischen die «Times» verlassen hat.

Okrent verdankte sein Mandat dem vorletzten grossen Medienskandal, in den die «New York Times» verwickelt war. Als der Serientäter Jayson Blair überführt war, der seiner Redaktion wiederholt gefälschte Berichte unterjubeln konnte, löste dies eine breite Diskussion über journalistische Ethik und redaktionelle Qualitätssicherung aus. Als Folge richtete die «New York Times» Ende 2003 ihre erste Ombudsstelle ein. Okrent griff in den 18 Monaten seines Mandats schmerzhafte Themen auf – zum Beispiel die Art und Weise, wie das Blatt mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt umging oder wie die Zeitung die Behauptung der Bush-Regierung aufgriff, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfüge. Okrent erklärte in seinen Kolumnen auch elementare Dinge – etwa wie die Seite 1 der Zeitung «gebaut» wird und wie die Redaktion mit Wahlumfragen und anonymen Quellen umgeht.

Sein Erfolg ist gewiss seiner persönlichen Kompetenz und Integrität zuzuschreiben, wäre aber so nicht möglich gewesen, hätte nicht der Verlag seine Position mit einem hohen Mass an Sichtbarkeit, Zugänglichkeit und Autonomie ausgestattet. Diese Unabhängigkeit, «die allein es ermöglicht, Zweifel an der Funktion und Figur des Mediators zu zerstreuen», hat auch sein Nachfolger Calame gleich in seiner ersten Kolumne betont und «noch mehr Transparenz» versprochen.

Vor wenigen Wochen ging auch die Amtszeit von Michael Getler zu Ende, der über fünf Jahre hinweg bei der «Washington Post» wirkte. Er wurde abgelöst von Deborah Howell, einer erfahrenen Korrespondentin, die zuvor 15 Jahre lang das Hauptstadtbüro der Newhouse-Zeitungsgruppe geleitet hat. Getlers Arbeit war bestimmt von der schwierigen Präsidentschaftswahl im September 2000, den Anschlägen des 11. September sowie den Kriegen in Afghanistan und im Irak. Immer wieder musste er den Lesern Entscheide der Redaktion erklären: Wieso hat die «Washington Post» eine bestimmte Nachricht auf der ersten Seite gebracht? Wie rechtfertigt die «Post», dass sie in der Vorkriegsphase so wenig kritische Fragen zur Regierungspolitik stellte?

Heikle Fragen

Oft musste Getler auf heikle Fragen der Leser antworten. Zu erinnern ist an die Foto aus dem Jahr 2004, die auf der Frontseite eine amerikanische Soldatin mit einem Gefangenen an der Hundeleine zeigte. Dieses Bild aus Abu Ghraib, das die «Post» zunächst exklusiv hatte, ging um die Welt; die Leser reagierten entsetzt und teilweise vorwurfsvoll. Getler griff das Thema auf und gab zunächst die Stimmungen wieder: «Nach der Veröffentlichung riefen uns viele Leser und Leserinnen an und liessen uns wissen, dass sie davon genug hätten. ‹Wir versuchen, die Situation im Irak zu bewältigen›, sagte einer, ‹und ihr giesst Öl ins Feuer.› ‹Was für beschämende Erniedrigungen werden uns denn noch zugemutet?›, fragte ein anderer, ‹wir haben kapiert.›» Dann erläuterte Getler, warum die Redaktion die Foto publizieren musste: «Die Realität des Krieges gehört in all ihren Aspekten berichtet und fotografiert – das ist das Patriotischste und Nötigste, was man in einer Demokratie tun kann.»

Das Beispiel zeigt, wie ein Ombudsmann redaktionsinterne Vorgehensweisen und Entscheide verständlich machen kann – Prozeduren, die oftmals für Leser mysteriös und kaum nachvollziehbar erscheinen. Auch die Zeitung profitiert von einer solchen Institution, wenn sie weithin sichtbar ist. Ein Ombudsmann vermittelt Glaubwürdigkeit. Verschiedene Studien – darunter das Buch des Medienexperten Philip Meyer «The Vanishing Newspaper»[1] – bestätigen, dass die Glaubwürdigkeit einer Zeitung und ihr Geschäftserfolg eng miteinander korrelieren.

Gründlich, unparteilich, urteilssicher

Ombudsleute müssen deshalb in hohem Masse glaubwürdig sein. Typischerweise handelt es sich in den USA um Journalisten mit langjähriger Berufserfahrung, die unter ihresgleichen als Autoritäten gelten und die sich deshalb gründlich, unparteilich und mit sicherem Urteil mit Beschwerden aus der Leserschaft auseinandersetzen können. Bei Missständen suchen sie nach Abhilfe, Missverständnisse klären sie auf, Fehler werden korrigiert. Und dort, wo man sie wirklich ernst nimmt, haben sie eine Kolumne, in der sie völlig unabhängig von Chefredaktor und Redaktion zu den Fällen Stellung beziehen können, die für einen grösseren Leserkreis interessant sind. Indem sie als Mediatoren wirken, helfen sie die weitverbreitete Vorstellung korrigieren, dass Medien den Kontakt zur Wirklichkeit der kleinen Leute verloren hätten, arrogant, unsensibel und für Normalbürger unzugänglich seien.

Neil Nemeth[2] gelangt in seiner wissenschaftlichen Analyse der Ombudsleute zum Ergebnis, dass sie beträchtliche Fortschritte erzielt hätten beim Versuch, sich Gehör zu verschaffen, auch wenn es zahlenmässig kaum Zuwächse zu verzeichnen gebe. Einwände gegen die Institution werden dennoch weiterhin geltend gemacht. Einer ist wirtschaftlicher Art: In Zeiten knapper redaktioneller Ressourcen sei ein Ombudsmann ein Luxus. Das zweite Gegenargument ist prinzipieller Natur: Letztlich seien es die Journalisten und Chefredaktoren selbst, die für ihre Arbeit verantwortlich seien und die diese vor den Publika zu rechtfertigen hätten. Allerdings haben Redaktoren und Redaktionsleiter in den seltensten Fällen Zeit und Lust, ihre Verhaltensweisen den Lesern zu erklären. Nemeth fragt sich, ob der zweite Einwand ganz ehrlich gemeint ist oder ob es nicht um Abwehrversuche geht – aus Unsicherheit, Arroganz oder aus Angst, kritisiert zu werden, und das obendrein in den Spalten der eigenen Zeitung.

[1] Philip Meyer: The Vanishing Newspaper: Saving Journalism in the Information Age, Columbia: University of Missouri Press, 2005.

[2] Neil Nemeth: – News Ombudsmen in North America, Westport, Connecticut: Praeger, 2003.

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