Immer dieselben Wissenschaftler am Mikrofon

2. November 2018 • Qualität & Ethik • von

Der Publizistikprofessor Mike Schäfer hat es empirisch erhärtet: Nur wenige Wissenschaftler kommen in den Medien vor. Trägt der Wissenschaftsbetrieb eine Mitverantwortung?

Eine Vielfalt wissenschaftlicher Stimmen gibt es in der Medienarena nicht: Von den 1100 der rund 5500 Professoren in der Schweiz, welche Zürcher Forscher in ihrer Stichprobe erfasst haben, sind es ganze 42, die regelmäßig von den Medien als Experten befragt werden und rund 50 Prozent aller Statements bestreiten. Die drei meistzitierten Medienstars der Schweizer Forscher sind Michael Hengartner (Molekularbiologe und Rektor der Universität Zürich), Michael Ambühl (Experte für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement, ETH Zürich) und Kathrin Altwegg (Astrophysikerin, Universität Bern). Die meistgenannten Forschungsinstitutionen sind die Universität St. Gallen und das Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf.

Die überwältigende Mehrheit der Professoren, sprich rund 96 Prozent, erhält dagegen so gut wie keine Medienaufmerksamkeit – wohl auch, weil sie sich nicht aktiv darum bemühen – ganz anders als Politiker, Showstars und die vielen weiteren publizitätsgierigen Protagonisten der Aufmerksamkeitsökonomie.

Untersucht haben die Zürcher Forscher mithilfe der Factiva-Datenbank die Berichterstattung von 100 Schweizer und 30.000 ausländischen Medien. Die Daten bestätigen somit auch den Verdacht, dass Journalisten auf der Suche nach geeigneten Quellen sich gerne stets derselben Forscher mit bereits erwiesener Medienkompetenz bedienen. Sich in einem zusehends unüberschaubaren und hochspezialisierten Wissenschaftsbetrieb nach den jeweils „richtigen“ Experten umzusehen, die zum Berichterstattungsthema wirklich sachkundig Auskunft geben könnten, würde eben in Mehrarbeit ausarten.

Sozialwissenschaftler präsenter

Die Sozialwissenschaften schneiden im Blick auf mediale Sichtbarkeit weit besser ab als andere Disziplinen. Die Schlusslichter sind die Mathematik, die Chemie und die Veterinärwissenschaft. „Gefühlt“ lässt sich allerdings ergänzen, dass angesichts der digitalen Revolution unseres Mediensystems und der Umbrüche in der gesellschaftlichen Kommunikation in den Medien gerade die Medienwissenschaften wenig präsent sind, die diesen Wandel der Öffentlichkeit begleiten und erforschen.

Das möchten jetzt drei namhafte Medienforscher ändern: Mark Eisenegger (Universität Zürich), Larissa Krainer (Universität Klagenfurt) und Marlis Prinzing (Macromedia Hochschule Köln). Sie arbeiten an einer Charta, die sie bereits auf den Jahrestagungen der Schweizer und der deutschen kommunikationswissenschaftlichen Fachgesellschaften vorgestellt haben und kürzlich im kleinen Kreis in Köln weiter konkretisiert wurde.

Zum ersten Mal kommt es damit in allen drei deutschsprachigen Ländern zu einer gemeinsamen Initiative, die der „Kommunikationswissenschaft als öffentlicher Wissenschaft“, so Prinzing, zu mehr Sichtbarkeit verhelfen soll. Es sei an der Zeit, die Tradition der Sozialwissenschaften als „kritische Perspektive der Moderne“ wiederzubeleben. Vonseiten der Wissenschafter gelte es, vermehrt mit der Öffentlichkeit und auch mit den Medienmachern über ihre Forschung zu kommunizieren – und nicht nur „Science to Science“, also innerhalb der jeweiligen Forschergemeinde. Medienforscher sollten Beobachter und „präsente Diskursstimmen“ in der digitalen Gesellschaft sein.

Um diesen Anspruch zu untermauern, haben die drei Forscher unter namhaften Kollegen aus den deutschsprachigen Ländern erste Expertengespräche geführt – und sind dabei zu Erkenntnissen gelangt, die nicht ganz in sich widerspruchsfrei sind: So sehen die befragten Forschenden übereinstimmend vor allem den einzelnen Wissenschaftler in der Verantwortung. Sie machen aber zugleich den Wissenschaftsbetrieb dafür verantwortlich, dass „die gegenwärtigen Forschungsroutinen für die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung kaum Anreize und Gratifikationen bieten“.

Leicht irritierend an der Initiative war zunächst nur der Sprachgebrauch der drei Initianten: Sie forderten, die Kommunikationswissenschaft solle sich als „Aufklärungswissenschaft“ bewähren. Das war erkennbar von Immanuel Kant und von Mark Eiseneggers verstorbenem wissenschaftlichem Ziehvater Kurt Imhof inspiriert, aber auch missverständlich: es war von oben herab gedacht, und es handelte sich um einen weißen Schimmel: Wissenschaft bedeutet ja per definitionem Aufklärung. Bei der Charta geht es indes darum, die Gesellschaft dialogisch in den Aufklärungsprozess einzubeziehen, dessen Nutznießer auch die Wissenschaft sein kann.

Vorwurf der Eitelkeit

Ergänzend und vertiefend haben Stefan Selke (Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Furtwangen) und Annette Treibel (Pädagogische Hochschule Karlsruhe) kürzlich in einem Sammelband „Öffentliche Gesellschaftswissenschaften“ die Problematik neuerlich zum Thema gemacht. Treibel arbeitet heraus, dass Forscher, die sich in der Wissenschaftskommunikation außerhalb ihrer Scientific Community engagieren, noch immer von ihren Kollegen der Eitelkeit verdächtigt werden. Auch der Zeitbedarf für wirksamen Transfer, der sich nicht nur in Betriebsamkeit erschöpft, wird, so Selke, unterschätzt: „Öffentlichkeitsorientierte Lehre und Forschung als neue soziale Praxis hinterlassen wenig erkennbare und karrieretaugliche Spuren und sind nicht innerhalb der üblichen akademischen Anerkennungsrituale zu verwerten.“

In der Tat kann es einen nur wundern, weshalb Institutionen für Forschungsförderung hier nicht die Anreizstrukturen überdenken, mit denen sie Wissenschaftler, die in die Gesellschaft hineinwirken wollen, geradezu bestrafen. Dabei wäre es in Zeiten proliferierender Desinformation – Fake-News sind da nur die Spitze des Eisbergs – eine der vornehmsten Aufgaben der Wissenschaft, das zu tun, was Treibel einfordert: „Andere Perspektiven anbieten, zur Versachlichung beitragen, Erregungsdiskurse abkühlen, Forschungsbefunde (selbst-)kritisch auf ihre praktischen Implikationen zu befragen, irritieren.“

Was die Herausgeber an Einsichten, aber auch Anwendungsfeldern zusammengetragen haben, reflektiert den „State of the art“ der vielfältigen, aber weiterhin wenig Breitenwirkung erzielenden Versuche, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse an eine breitere Öffentlichkeit heranzutragen.

Risiko von Shitstorms

Eine Schilderung im Buch geht allerdings so an die Schmerzgrenze, dass sich mancher Forscherkollege fragen wird, ob er sich solch einem Shitstorm aussetzen solle: Annette Treibel zeichnet nach, wie sie als Migrationsexpertin ins Kreuzfeuer der sozialen Netzwerke geraten ist und mit Hassbotschaften überschüttet wurde. Sie verzichtet inzwischen auf weitere Talkshow-Auftritte, nachdem ihr Eintreten für Integration dazu führte, dass sie als „Tussi“, „Planschkuh“, „überstudierte Frau“ und als fürchterlich hässliches, verbittertes, „linksrotgrün verblödetes Bahnhofs-Klatschweib“ geschmäht wurde.

Mehrere der versammelten Autoren stehen sich indes selbst im Weg, weil sie ihr Anliegen wenig anschaulich vermitteln. Ihre Beiträge sind so verfasst, dass sie sich eher an Fachkollegen als an die mediale Öffentlichkeit richten. Um das mit einem Beispiel zu illustrieren: Selke fordert zu „gelebtem Grenzgängertum“ auf, der Kategorienbegriff „Öffentliche Gesellschaftswissenschaften“ ergebe eigentlich nur einen Sinn, „weil er das progressive Moment der notwendigen Disziplinüberschreitung bereits beinhaltet“. Das ließe sich einfacher sagen.

Auch krampfhaftes Gendern von Sprache – sprich: Varianten vom großen „I“ (WissenschafterInnen) bis hin zum Auslassungszeichen (Journalist_innen), die im Buch durchexerziert werden – dürfte nicht gerade das Anliegen öffentlicher Wissenschaft befördern. Zumindest all jene Adressaten stößt das vor den Kopf, die noch altmodisch zwischen Genus und Sexus zu unterscheiden wissen und für die deshalb weder alle Ameisen weiblich, noch alle Mädchen geschlechtslos, noch alle Wissenschaftler und Journalisten männlich sind. Andere Leserinnen und Leser werden solche sprachlichen Stolpersteine als das perzipieren, was sie eben auch sind: politische Statements, die einer „öffentlichen Wissenschaft“ dann eher entgegenstehen, wenn sie durch ein Zuviel an Political Correctness das Anliegen von Selke, Treibel und ihren Gefolgsleuten unterminieren.

Unrealistisch

Spannend ist indes, wenn Selke mit seinem Plädoyer für mehr „öffentliche Wissenschaft“ an einen der schärfsten Kritiker der Expertenherrschaft, den Philosophen und Jesuitenpater Ivan Illich und dessen Forderung nach einer „konvivialen Erneuerung postindustrieller Gesellschaft“ anknüpft und mehr „Gemeinwohl statt Unternehmensorientierung“ der Wissenschaft einfordert.

Letztlich verbohrt er sich dabei jedoch in eine Utopie, von der Soziologen inzwischen wissen sollten, dass sie angesichts der gesellschaftlichen Machtstrukturen und -kämpfe inner- und außerhalb des Wissenschaftsbetriebs hochgradig unrealistisch ist: „In einer konvivialen Gesellschaft teilen (alle) Menschen Kenntnisse und Kompetenzen. Die Werte aller (und nicht nur jene der Eliten) gehen in Zieldefinitionen zum gesellschaftlichen Wandel ein.“ Das klingt dann eben doch mehr nach von Marx und Habermas inspiriertem Wolkenkuckucksheim als nach einer öffentlichen Gesellschaftswissenschaft, die so vorurteilsfrei und rational wie möglich analysiert, was ist.

Stefan Selke / Annette Treibel (Hg.): Öffentliche Gesellschaftswissenschaften: Grundlagen, Anwendungsfelder und neue Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS Verlag, 2018

Erstveröffentlichung: NZZ vom 27. Oktober 2018

Bildquelle: pixabay.de

 

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