Journalistische und wissenschaftliche Wahrheiten

30. April 2014 • Qualität & Ethik • von

Journalisten wie Wissenschaftler sind einem obersten Gebot verpflichtet: der Wahrheitssuche. Dass es die „eine“ Wahrheit allerdings nicht immer gibt, wissen wir spätestens, seit uns der aus Österreich in die USA emigrierte Medien- und Sozialforscher Paul Watzlawick und in seinem Gefolge viele andere Konstruktivisten darauf aufmerksam gemacht haben, dass wir uns oftmals mit mehreren Wirklichkeitswahrnehmungen auseinandersetzen müssen und uns obendrein unsere eigenen Wahrheiten zurechtlegen.

Deshalb ist es spannend, wie Senja Post (Universität Koblenz-Landau) den „Wahrheitskriterien von Journalisten und Wissenschaftlern“ nachspürt. Befragt hat sie dazu allerdings nur die „Creme de la creme“ beider Berufsgruppen – bei den Wissenschaftlern kamen nur arrivierte Professoren zum Zuge, bei den Journalisten nur festangestellte, leitende Redakteure von Abo-Tageszeitungen mit über 100 000 Auflage. Die Ergebnisse sind somit kaum zu verallgemeinern.

Gleich zu Beginn ihrer Untersuchung konstatiert die Forscherin „erhebliche Diskrepanzen zwischen den Aussagen von Wissenschaftlern und deren Darstellungen in den Medien“. Journalisten richteten „ihre Aufmerksamkeit auf negative, spektakuläre Einzelfälle, während Wissenschaftler Regelfälle, Verteilungen und Mittelwerte betrachten“. Als wohl wichtigste Differenz im Umgang mit „Wahrheit“ ermittelt Post die Neigung der Journalisten, „in einer Situation mit starkem Konkurrenzdruck auch vorläufige Befunde zu veröffentlichen“, während Forscher, vor allem die befragten Naturwissenschaftler, stärker dazu neigten, auf das Endergebnis des wissenschaftlichen „Peer review“ zu warten.

Besonders heikel wird übrigens die Wahrheitssuche, wenn es um Journalisten und um die Frage von Medienwirkungen geht: Da klaffen nämlich die Wahrheits-Perzeptionen beider Berufsgruppen oft meilenweit auseinander. In der Medienforschung hat sich nach jahrzehntelangen, heißen Diskussionen als Erkenntnisstand durchgesetzt, dass Journalismus starke, wenngleich sehr selektive Wirkungen hat. Soll heißen: Nicht immer, aber doch sehr oft haben Medien einen Effekt und schlagen auf die Wahrnehmung und die Handlungsweisen des Publikums durch. Wäre das nicht so, gäbe es seitens der Public Relations vermutlich keine kostspielige Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Redaktionen – und übrigens auch nicht das Milliardengeschäft mit der Werbung.

Journalisten wehren dagegen meist ab, wenn Forscher starke Medieneffekte konstatieren – wie zum Beispiel jüngst in der Schweiz, als gleich zwei Forschungsinstitute unabhängig voneinander in einem Tel der Medien einen Überhang an populistischer Berichterstattung konstatierten – und sie damit zumindest indirekt auch für den Abstimmungserfolg der Initiative gegen „Masseneinwanderung“ mitverantwortlich gemacht hatten.

Dabei ist völlig unstrittig, dass auch im Zeitalter der sozialen Netzwerke weiterhin ein Diktum des Soziologen Niklas Luhmann gilt: Was wir erfahren, erfahren wir aus den Medien. Die Wirkungen von Massenmedien sind empirisch gut belegt. Nur wie wir es erfahren, hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Joshua Benton (Harvard University) hat soeben in einem Beitrag für das Nieman Journalism Lab noch einmal an das geflügelte Wort eines amerikanischen Studenten erinnert, das jahrelang durch den internationalen Konferenz-Zirkus geisterte: “If the news is that important, it will find me” – Wenn eine Nachricht wichtig ist, kommt sie (über die sozialen Netzwerke) zu mir.

Das ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass Journalisten heute genau verfolgen können, welche ihrer Storys „buzz“ erzeugen, also angeklickt und über Facebook, Twitter und andere Netze weiterverbreitet werden. So besteht eine große Gefahr darin, dass der Journalismus immer populistischer wird – und damit, wie das schon vor Jahren der Publizist Roger de Weck vorhergesehen hat, den politischen Populismus nährt. Die Wahrheitssuche wird dann eher zweitrangig. Es zählt, womit sich Aufmerksamkeit generieren lässt – und dafür taugen zugespitzte Halbwahrheiten, Gerüchte und vorläufige Befunde allemal besser als sauber recherchierte, um Fairness und Wahrheit bemühte journalistische Glanzleistungen.

Post, Senja (2013): Wahrheitskriterien von Journalisten und Wissenschaftlern, Baden-Baden: Nomos.

Erstveröffentlichung: Schweizer Journalist Nr. 4+5 /2014

Bildquelle: geralt / pixabay.com

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