Neue Zürcher Zeitung, 7. September 2007
Das Wort Bürgerjournalismus ist in fast aller Munde: Die Laien übernehmen. Im professionellen Journalismus hingegen herrscht Skepsis allein schon gegenüber mehr Bürgernähe. Dabei könnten sich Bürgerjournalismus und bürgernaher Journalismus gut ergänzen.
Amerikanische Medien haben seit den neunziger Jahren mit bürgernahem Journalismus (Public oder Civic Journalism) recht gute Erfahrungen gemacht. Anstoss zu dieser Journalismusform gab – nach den Präsidentschaftswahlen 1988 zwischen George Bush senior und Michael Dukakis – der selbstkritische Befund, dass Journalismus und Politik zu einem Spiel verkommen seien, in dem Vertreter beider Seiten sich mit Schmutz bewerfen und überhaupt nicht mehr an ihr Publikum, die Bürgerinnen und Bürger, denken würden. Zeitungs-Rezession und Personalabbau in den Redaktionen förderten die Bereitschaft zu Selbstkritik und Veränderung.
Die Optik der Bürger einbeziehen
Worum handelt es sich bei Public Journalism? Es ist ein journalistisches Konzept, das die Bürgerperspektive stärker in die Medienarbeit einbezieht. Journalistinnen und Journalisten reden nicht mehr nur mit Prominenten und «Offiziellen», sondern auch mit den Betroffenen. Sie gehen hinaus, organisieren Anhörungen von Bürgern und Publikumsdiskussionen, holen Bürgergruppen auf die Redaktionen, erfragen die Bürgersorgen und engagieren sich für die demokratische Beteiligung der Menschen. Sie sind überzeugt, dass eine lebendige Demokratie ohne eine aktive Rolle der Medien nicht möglich ist.
In Europa fand dieses Konzept des bürgernahen Journalismus bisher nur wenig Resonanz. Dafür sind Unterschiede der Rahmenbedingungen verantwortlich; vielleicht spielt auch eine Rolle, dass die Wortführer des Public Journalism in den USA nicht mehr so laut trompeten, wie Sabrina Meister in einer kleinen Studie an der Universität Bern zeigte: Der Wortführer der Theorie, Jay Rosen, der an der New York University lehrt, schwört neuerdings nur noch auf Weblogs. Der Wortführer der Praxis, Davis Merritt, ehemaliger Chefredaktor des «Wichita Eagle» (Kansas), ist hingegen nach wie vor überzeugt, dass die Medienbesitzer und die Medienschaffenden ihr Verhalten ändern müssen, aber er spricht nicht mehr unbedingt immer von Public Journalism, sondern von der Verantwortung der Medien für die Demokratie.
Neue Schubkraft
Doch neuerdings ist in Europa viel von Bürgerjournalismus (Citizen Journalism) die Rede. Dieser unterscheidet sich vom bürgernahen Journalismus: Beim Public Journalism behalten die journalistischen Profis das Heft in der Hand, beim Citizen Journalism treten die Laien in den Vordergrund. Dass ausgerechnet jetzt darüber mehr diskutiert wird, liegt an zwei parallel laufenden Entwicklungen: Begriffe wie Zivilgesellschaft, Bürgerverantwortung und soziales Kapital sind in aller Munde; neue Kommunikationstechniken ermöglichen über das Internet früher völlig undenkbare Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern, die entweder durch Handy-Fotos und Hinweise als «Bürgerreporter» an der Medienproduktion teilhaben (Partizipatorischer Journalismus) oder gar – etwa durch Weblogs – selbst Medienschaffende werden (Bürgerjournalismus).
Über die hier entstehenden Journalismusformen lässt sich nicht so leicht hinwegschauen wie über ihren älteren Bruder Public Journalism. Doch die Konzepte können sich gegenseitig nützen: Unübersehbar ist der Bürger zurück im Scheinwerferlicht – und nun auch (endlich wieder) stärker im Blickfeld der Journalisten. Viele von ihnen hatten sich entfremdet von den Bürgern, waren sich selbst genug, vertrauten auf ein passives Publikum, dem man auftischte, was man für opportun hielt. Unbequeme Themen wurden vernachlässigt.
Die neue Bürgerbewegung bringt den Journalismus in Fahrt, der beschleunigt wird durch Fusionen von Medienhäusern und die damit verbundenen Synergien, die sich oft als Personalabbau übersetzen. Die Fahrtrichtung ist offen; sie hängt entscheidend davon ab, wie sich die Redaktionen der neuen Entwicklung stellen. In einigen Ländern, so in Finnland, in den Niederlanden, in Deutschland, in der Schweiz, experimentierten Zeitungen mit bürgernahem Journalismus. Doch in weiten Medienkreisen wird Bürgernähe nach wie vor verschmäht.
Skepsis an der Basis
Dies zeigen Arbeiten, die am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Bern entstanden sind und die sich mit bürgernahem Journalismus befassen. Edith Funicello wollte die Stimmung an der journalistischen Basis erkunden. Dazu befragte sie Medienschaffende in Zürich und in Bern online. Leider war der Rücklauf erbärmlich. Dies mag mit dem Thema zu tun haben, aber auch damit, dass Journalisten grundsätzlich nicht gerne lange Fragebogen beantworten. Immerhin sind die Ergebnisse so eindeutig, dass sie einen Eindruck davon geben, wie die Stimmung an der Basis ist.
Am Beispiel der Wahlberichterstattung zeigte sich, dass die Befragten alle journalistischen Aktivitäten unterstützten, die sich kritisch mit den Parteien, den Interessengruppen, der Wahlwerbung, den Wahlkampfspenden, den politischen Positionen und den persönlichen Hintergründen der Kandidierenden auseinandersetzen. Sie waren aber skeptisch oder völlig ablehnend gegenüber journalistischen Aktivitäten, bei denen Bürger eine zentrale Rolle spielen. So sollten ihrer Meinung nach die Medien keine eigenen Veranstaltungen im Wahlkampf durchführen, nicht Bürgerpanels befragen, keine Bürgergruppe die Wahlberichterstattung begleiten und kommentieren lassen und nicht recherchieren, wie die Bürgeranliegen besser in die Politik gelangen können oder welches für den Wahlkampf wichtige Bürgerthemen sind. Das Argument war oft: Das ist nicht Sache der Medien. Es scheint, dass Schweizer Journalisten ein wenig Angst haben, mit so einem Konzept das Heft aus der Hand geben zu müssen.
Veränderungswille an der Spitze
Etwas offener sind die Chefredaktoren. Sonja Schneider und Martin Stucki führten Interviews mit Chefredaktoren oder Vize-Chefredaktoren von neun wichtigen Deutschschweizer Zeitungen. Alle brachten zum Ausdruck, dass die Schweiz bürgernahen Journalismus braucht, und zwar mehr, als dies heute bereits der Fall ist. Gottlieb Höpli («St. Galler Tagblatt») fand, es werde noch zu viel Journalismus aus der Rednerpult-Perspektive betrieben. Markus Eisenhut («Berner Zeitung») betrachtet die Leserschaft als Kunden und will die Medienschaffenden dazu bringen, dass sie vermehrt auf die Interessen der Bevölkerung eingehen.
Verschiedene Zeitungen haben bereits Projekte realisiert, die dem bürgernahen Journalismus zugerechnet werden können. Der «Tages-Anzeiger» organisiert öffentliche Podien zu aktuellen Problemen. Der «Blick» erfasst Bürgerinformationen über die Nummer 8989 und führt einen «Stammtisch» durch. Die «Neue Luzerner Zeitung» realisierte bei den kantonalen Wahlen im Frühling 2007 ein Forum, wo Leser via Internet Fragen stellen konnten, die an die Kandidierenden gerichtet waren. Ausserdem konnten die Bürger unter dem Stichwort «Der Fall» Sorgen und Probleme melden, die mit dem politischen System zusammenhängen. Die «Berner Zeitung» ist daran, im Internet lokale Bürgerforen zu schaffen.
Allerdings äussern sich auch Chefredaktoren skeptisch gegenüber dem Public Journalism. Andreas Durisch («Sonntags-Zeitung») war der Ansicht, Medien sollten nicht politische Institutionen ersetzen und in deren Wirken eingreifen, sondern durch faktenreichen Journalismus Debatten auslösen und so die Menschen zu mehr Engagement bewegen. Peter Hartmeier («Tages-Anzeiger») fand, es sei nicht das Ziel des Journalismus, das Interesse der Bürger für Politik zu wecken. Hauptaufgabe der Medien sei es, Transparenz herzustellen. Hartmeier vertritt eines jener Schweizer Medienhäuser, deren Redaktionen sich als Weiterbildung das Konzept des Public Journalism näher anschauten.
Ermutigt durch Weiterbildung
Neu und nützlich für die tägliche Arbeit – so lautete der Tenor der Rückmeldungen aus den Weiterbildungskursen. Mancher fühlte sich schlicht «bestärkt in der bisherigen Jobauffassung» und ermutigt, noch gezielter und strukturierter bürgernahen Journalismus zu betreiben. Es klangen nur leise Zweifel an, ob im Alltag nicht manches der Zeitökonomie geopfert werde. Ein Redaktor meinte: «Mir fehlte der Beweis, was Public Journalism wirklich bringt.» Er brachte damit ein generelles Problem auf den Punkt: Konzepte wie der Public Journalism sind keine Königswege; sie sind weder revolutionär, noch umfassen sie die Pflicht, nun alles und jedes nach dieser Methode anzupacken. Vielmehr sind sie ein Angebot, im geeigneten Moment das notwendige Wissen und Handwerkszeug einzusetzen.
Überspitzte Erwartungen führen in die Sackgasse: «Limburgs Dagblad» in den Niederlanden wollte mit solchen Konzepten der Lesernähe den Auflagenschwund stoppen, hatte aber zu kurzen Atem. Weil die Leserzahlen nicht rasch zunahmen, gab man auf – ohne den tatsächlichen Gewinn zu berechnen: Lesernähe und mehr Qualität bedeuten immer ein Plus. In den USA, wo rund 600 Medienhäuser Public Journalism betreiben, verständigte man sich auf das Ziel, eine vitale Demokratie zu befördern – und auf eine Art Kodex, ein Programm, das die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Bewegung vereinte.
Professionelle Journalisten und Bürgerjournalisten in Europa könnten sich dies als Beispiel nehmen – zu beider Vorteil: Übernehmen Bürgerjournalisten Zielvorstellungen des Public Journalism, vermeiden sie, ihren Ruf mittelfristig zu beschädigen – und damit die Demokratie. Öffnen sich professionelle Journalisten dem Dialog mit den Bürgerjournalisten, gewinnen sie Bodenhaftung und Kontur. So können sie mittelbar einem weiteren Stellenabbau und Qualitätsverlust in der eigenen Branche vorbeugen.
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