In der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen befindet sich Kolumbien auf Platz 134, im Vergleich zum Vorjahr ist das Land um vier Plätze zurückgefallen. Die Angriffe auf Journalisten während des Nationalstreiks markieren einen vorläufigen Höhepunkt der Gewalt gegen Medienschaffende. Unser Autor hat mit Jonathan Bock, Geschäftsführender Direktor der kolumbianischen Stiftung für Pressefreiheit (Fundación para la Libertad de Prensa – FLIP) über die aktuellen Entwicklungen gesprochen.
Strukturelle Bedingungen erschweren journalistische Arbeit
Zweifellos sind die Arbeitsbedingungen und die Gehälter der Journalisten ein wichtiger Faktor, der die Pressefreiheit in Kolumbien beeinflusst. Das zeigt auch die Studie „Cartografías de la Información“. Das von FLIP zwischen 2015 und 2018 durchgeführte Forschungsprojekt hat 994 Teilgebiete in Kolumbien kartiert mit Ausnahme der Städte Bogotá, Medellín und Cali, wo bekannt ist, dass es ein ausreichendes Medienangebot gibt.
Die Untersuchung, für die 2100 Journalistinnen und Journalisten befragt wurden, zeigt die prekären Arbeitsbedingungen von den Medienschaffenden auf, die nicht in den Großstädten arbeiten. Die Ergebnisse demonstrieren, dass 60% der befragten Journalistinnen und Journalisten weniger als einen kolumbianischen Mindestlohn verdienen. Derzeit beträgt der kolumbianische Mindestlohn inklusive Fahrtkostenzuschuss etwas mehr als eine Million kolumbianische Pesos monatlich, das entspricht in etwa 220 Euro. 20% der im Rahmen der Untersuchung befragten Journalisten erhalten zwischen 220 Euro und 450 Euro monatlich. Die restlichen 20% verdienen mehr als 450 Euro im Monat.
„Es ist sehr wichtig, die prekären Arbeitsbedingungen von Journalisten aufzuzeigen. Viele Journalisten haben nicht einmal einen Arbeitsvertrag,“ sagt Jonathan Bock, Direktor der FLIP. Zudem müssten sie darauf achten, dass sie die sogenannte „Werbe-Quote“ erfüllen. Dafür kaufen Unternehmer Sendezeit bei einem Radio- oder TV-Sender und „überlassen“ diesen einem oder mehreren Journalisten. Eine Stunde kostet den Journalisten zwei bis zweieinhalb Millionen kolumbianische Pesos, also ungefähr zwei kolumbianische monatliche Mindestlöhne.
Um das bezahlen zu können – und zusätzliche Einnahmen zu erzielen – muss der Journalist Werbung verkaufen. „Journalisten müssen also Werbekunden gewinnen, um z.B. ihre Radiosendung aufrechtzuerhalten, um damit ihren eigenen Lebensunterhalt sichern zu können. Natürlich bringt das Journalisten in eine sehr unangenehme Situation, da sie damit gleichzeitig auch im Marketing arbeiten”, erklärt der Direktor des FLIP. Dies fördere toxische Beziehungen zwischen Journalisten, staatlichen Behörden und privaten Unternehmen, darunter Wasser- und Kanalisationsunternehmen sowie Spirituosenunternehmen, die normalerweise das höchste Werbebudget haben, und gefährde dadurch die journalistische Unabhängigkeit, so Bock.
Die Abhängigkeit der kolumbianischen Medien von der Werbung von staatlichen Behörden und privaten Unternehmen, die oft die gleichen Interessen wie die Regierung verfolgen, hat direkte Auswirkungen auf die Medien und die Informationen, die sie verbreiten. Denn dies erleichtert den Unternehmen, Druck auf die Medien auszuüben, damit diese Informationen im Interesse ihrer Belange veröffentlichen und manchmal vielleicht sogar Informationen unterschlagen, die für die Öffentlichkeit von Bedeutung sein könnten. Die etablierten Medien befinden sich in den Händen wirtschaftlich bedeutender Unternehmensgruppen oder gehören zu den Unternehmensgruppen mit Interessen in anderen Bereichen wie z.B. dem Finanzwesen, der Politik oder der Judikative. Dadurch wird die Unabhängigkeit dieser Medien ständig in Frage gestellt.
Eingriffe in die individuelle journalistische Freiheit: Schikanen, Zensur und Selbstzensur
Die wirtschaftliche Abhängigkeit ist für viele Journalisten aber oftmals das kleinere Übel. In dem südamerikanischen Land werden jährlich laut FLIP durchschnittlich zwischen 150 und 200 Journalisten bedroht, in den vergangenen 40 Jahren wurden 161 Journalisten ermordet.
Diese Gewalttaten werden oft von kriminellen Banden begangen, aber angeblich auch auf Befehl von lokalen Politikern und Vertretern der nationalen Regierung in Zusammenarbeit mit den Streitkräften ausgeübt. Laut Aussagen des Ex-Militärs Salvatore Mancuso, die in verschiedenen kolumbianischen Medien wie der Tageszeitung „El Espectador“ und der Radiosendung „La W Radio“ veröffentlicht wurden, waren viele dieser Gewaltakte Anordnungen der amtierenden Regierung. „Es handelte sich zum größten Teil um Aufträge, die vom Staat kamen und an die Gruppen in Auftrag gegeben wurden, die am besten in der Lage waren, die militärische Aktion durchzuführen“, erklärte Mancuso per Videoschalte aus einem Gefängnis in den Vereinigten Staaten bei der Anhörung im Rahmen der Untersuchung von Gerechtigkeit und Frieden des Gerichts der Stadt Barranquilla, Kolumbien, unter Bezugnahme auf die Ermordung von Journalisten, Anführern und Vertretern von Menschenrechtsorganisationen.
Diese gewalttätigen Ereignisse haben auch viele Orte in Kolumbien geprägt. Von den 994 kartierten Teilgebieten in der Studie der FLIP werden 578 als „Informationswüsten“ betitelt, also Orte, an denen es keine Medien gibt, die lokaljournalistische Inhalte produzieren, darunter die Region Cauca, die Provinzen Arauca, Córdoba und Catatumbo. In diesen Gebieten erlegen sich Journalisten aus Angst um das eigene Leben oder dem von Familienangehörigen eine Selbstzensur zum Selbstschutz auf.
„Journalisten wissen dort viel mehr, als sie sagen können. Sie haben Angst, bestimmte Informationen zu veröffentlichen. Offensichtlich hat die Gewalt gegen Journalisten zu einigen blinden Flecken im Land geführt und dem Journalismus im Allgemeinen und dem investigativen Journalismus im Speziellen enorme Beschränkungen auferlegt“, so Jonathan Bock.
Darüber hinaus ist in den letzten zehn Jahren deutlich geworden, dass mit juristischen Mitteln versucht wird, Journalisten zum Schweigen zu bringen. Zwischen 2016 und 2021 dokumentierte die FLIP 162 Gerichtsverfahren gegen Journalisten.
„Wenn beispielsweise innerhalb der katholischen Kirche Nachforschungen angestellt werden oder wenn Journalisten die Interessen einiger Anwälte untersuchen, gibt es eine Lawine von Gerichtsverfahren gegen Journalisten, was natürlich ein Risiko für die Meinungsfreiheit darstellt“, sagt Jonathan Bock.
Übergriffe auf die Presse während der Demonstrationen gegen die Regierung
Die Angriffe auf Journalisten während der seit Ende April herrschenden Proteste gegen die kolumbianische Regierung markieren einen vorläufigen Höhepunkt der Gewalt gegen Medienschaffende.
Die Lage in Kolumbien ist schon lange angespannt angesichts zahlreicher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme wie Armut und Hunger, Perspektivlosigkeit, Menschenrechtsverletzungen, der Nichtumsetzung des Friedensabkommens und Polizeigewalt gegen die Zivilbevölkerung. Eine Steuerreform brachte das Fass zum Überlaufen. Bei den Massenprotesten sind laut Medienberichten bislang über 60 Menschen ums Leben gekommen und Tausende verletzt worden.
Die FLIP hat während der Demonstrationen 314 Übergriffe gegen die Presse dokumentiert, die 358 Opfer zur Folge hatten, darunter 28 Medienhäuser und 330 Journalistinnen und Journalisten. 195 dieser Angriffe wurden von Seiten der Polizeibeamten und speziellen Einsatzkräften durchgeführt, u.a. mit Schusswaffen, Schlagstöcken, Fausthieben und Tritten. Videos, die auf Social Media zirkulierten oder die in den Medien veröffentlicht wurden, zeigten die Unverhältnismäßigkeit der Gewaltanwendung von Polizeibeamten und speziellen Kräfte gegen Journalistinnen und Journalisten. In allen Fällen waren sie durch eine Weste, einen Helm und Presseausweis sehr leicht als Pressevertreter identifizierbar.
Nach Angaben der Stiftung wurden die anderen 81 Angriffe von zivilen Personen, 27 Angriffe von Unbekannten und 9 Angriffe von öffentlichen Amtspersonen ausgeübt. Die restlichen Angreifer konnten nicht zugeordnet werden. Den Informationen zufolge der Stiftung wurden Journalisten von vermummten zivilen Personen, die an den Demonstrationen teilnahmen, angegriffen, weil sie aufgezeichnet oder dokumentiert haben, wie Personen an öffentlichen Gebäuden des Staates oder auf Privatbesitz Vandalismus verübten.
Insgesamt hat die Stiftung 14 Arten von Übergriffen auf die Medien im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den nationalen Generalstreik in Kolumbien identifiziert, von Drohungen über Belästigungen zu körperlichen Verletzungen. Darüber hinaus wurden Verstöße gegen die freie Berichterstattung durch willkürliche Aktionen in sozialen Netzwerken und Hacker-Angriffe auf Medienwebseiten ausgeübt.
Weitere Methoden zur Einschränkung der Pressefreiheit, die von der Stiftung der Pressefreiheit identifiziert wurden, waren die Behinderung und Einschränkung des Zugangs zu Informationen, und es wurde über Fälle berichtet, in denen Journalisten Nachrichtenmaterial gestohlen wurde oder sie gezwungen wurden, das Material zu löschen.
Aus den Berichten der Stiftung geht auch hervor, dass während der landesweiten Proteste Journalisten von der Polizei gebrandmarkt, verfolgt und misshandelt wurden. Es wird sogar behauptet, dass Spionageaktionen gegen Journalisten stattgefunden haben. Die FLIP hat die nationale Polizei und die Staatsanwaltschaft aufgefordert, Disziplinaruntersuchungen gegen die Polizeibeamte einzuleiten, die Journalisten angegriffen haben sollen.
Aufgrund der Gewalteskalation, mit der die Medien in Kolumbien seit Beginn der Demonstrationen am 28. April konfrontiert sind, haben Reporter ohne Grenzen (RSF) und die kolumbianische Stiftung für die Pressefreiheit (FLIP) gegenüber den Vereinten Nationen (UNO), der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der UNESCO Warnungen ausgesprochen. FLIP forderte Politik und Öffentlichkeit auf, alle Formen von Übergriffen und Gewalttaten gegen die Presse öffentlich zu rügen, um künftige Übergriffe zu verhindern.
Zudem wurde der Präsident dazu aufgefordert, eine klare Botschaft der Nulltoleranz an die Mitglieder der Exekutive zu senden, die an solchen Angriffen beteiligt waren.
Zum Schutz vor der Zunahme von Gewalt gegen Journalisten im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Demonstrationen, hat FLIP mit finanzieller Unterstützung von Reporter ohne Grenzen (RSF) im Juni beschlossen, auf Wunsch von Journalisten verschiedener Medien des Landes Schutzkits für Reporter zu liefern, darunter eine Weste mit dem Aufdruck –„Presse“ auf der Vorder- und Hinterseite , einen Helm und eine Vollgesichtsmaske, damit sie nicht erkannt und verfolgt werden können.
Das Ziel, mit den Angriffen auf Journalisten „eine der Säulen demokratischer Gesellschaften zu schwächen, nämlich die freie und unabhängige Presse“, sei besorgniserregend, erklärt die Stiftung in einem Artikel auf ihrer Website.
In einer Demokratie ist das Recht auf Protest und das Recht auf Information von grundlegender Bedeutung. Diese Rechte werden in Kolumbien immer noch nicht garantiert.
Die Stiftung für Pressefreiheit ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich für die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, das Recht auf Information und die Menschenwürde einsetzt und die freie Arbeit von Journalisten fördert.Die FLIP berät und begleitet Journalisten, um sicherzustellen, dass die freie Meinungsäußerung vom Staat garantiert und von den Bürgern als wichtiger gesellschaftlicher Wert anerkannt wird, sowohl in analogen als auch digitalen Umgebungen.Die Stiftung verfügt über ein Netzwerk von 31 Korrespondenten in ganz Kolumbien, die Fälle von Verstößen gegen die Pressefreiheit in verschiedenen Regionen dokumentieren. Darüber hinaus nimmt die Organisation per E-Mail oder über soziale Medien Beschwerden über Angriffe auf die Pressefreiheit in Kolumbien entgegen.Die FLIP ist beratendes Mitglied der Organisation amerikanischer Staaten (OAS). Außerdem ist die Stiftung Teil des „Antonio Nariño Projekts“ (PAN), der Plattform „Más Información Más Derechos“ und des International Freedom of Expression eXchange (IFEX).
Schlagwörter:FLIP, Fundación para la Libertad de Prensa, Gewalt gegen Journalisten, Kolumbien, Nationalstreik, Pressefreiheit, Selbstzensur