Zum Einfluss der Medien auf Strafverfahren
Im Februar 2004 verurteilte das Amtsgericht Karlsruhe den Versuchsingenieur Rolf Fischer in einem Indizienprozess wegen fahrlässiger Tötung zu 18 Monaten Haft ohne Bewährung. Er war für schuldig befunden worden, mit seinem Wagen die Fahrerin eines Kleinwagens bedrängt und dadurch den Tod der Fahrerin und ihrer Tochter verursacht zu haben. Vorangegangen war eine beispiellose Kampagne einiger Medien gegen den so genannten „Autobahnraser“.
Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im deutschen Anwaltsverein, Hans-Jürgen Gebhardt, hielt die Höhe der Strafe für „erstaunlich“. Es sei „nicht auszuschließen, dass öffentlicher Druck eine wichtige Rolle gespielt hat“. Zur Begründung führte er aus, dass „nach Alkohol-Unfällen selbst mit Todesfolge im Allgemeinen Bewährungsstrafen verhängt werden“ (Süddeutsche Zeitung, 19. Februar 2004).
Die Berufungsverhandlung fand wenige Monate später vor dem Landgericht Karlsruhe statt. Inzwischen hatten die verbalen Angriffe auf Rolf Fischer nachgelassen und in der Kritik am Urteil der ersten Instanz standen sich zwei Lager gegenüber, die die Strafe für zu hoch oder zu niedrig hielten. Das Landgericht sprach den Angeklagten auch in der zweiten Instanz schuldig, verurteilte ihn jedoch nur zu 12 Monaten Haft mit Bewährung und der Zahlung von 12.000 Euro an eine soziale Institution. Das legt die Vermutung nahe, dass die herrschende Meinung einen Einfluss auf die Urteile besaß. Falls sie zutrifft, hat es sich nicht um einen Einzelfall gehandelt. Dies belegen mehrere Fallstudien (vgl. Neuling 2005; Hamm 1997; Wagner 1987) sowie eine Befragung von 718 Richtern und Staatsanwälten (vgl. zum Folgenden Kepplinger 2010: 213).
Fast jeder Dritte (30%) räumte ein, dass Medienberichte einen Einfluss auf die „Höhe der Strafe“ haben können, jeder Vierte (24%) sagte, sie könnten einen Einfluss auf die „Bewilligung einer Bewährung“ haben und jeder Zehnte (12%) äußerte, sie könnten zur „Anordnung einer Sicherungsverwahrung“ führen. Wie kann man diese Befunde erklären? Man muss sich klar machen: Die Prozessbeteiligten sind keine unbeteiligten Leser, Hörer und Zuschauer des berichteten Geschehens, sondern Protagonisten, die das Geschehen aus eigener Anschauung kennen. Das betrifft die Opfer von Straftaten, die Angeklagten und Zeugen, die Sachverständigen, Verteidiger, Staatsanwälte und Richter. Sie alle werden zu Personen des öffentlichen Interesses oder empfinden es so. Dies beeinflusst auch dann ihre Mediennutzung, wenn sie nur Randfiguren sind: Sie verfolgen die Berichterstattung über „ihren“ Prozess intensiver als die Berichterstattung über andere Prozesse und setzen sich dadurch wesentlich stärkeren Mediendosen aus als unbeteiligte Beobachter.
Die Berichterstattung schmeichelt dem Selbstwertgefühl der Protagonisten. Sie wollen wissen, wie sie rüberkommen und welchen Eindruck andere von ihnen gewinnen. Das gilt auch für Richter und Staatsanwälte. Fast die Hälfte (40%) liest über „ihren“ Prozess „viel mehr Beiträge als über andere Prozesse“, ein Fünftel (20%) nutzt Medien, die sie „normalerweise nicht beachten“ und einige wenige (3%) lesen sogar „einzelne Beiträge immer wieder“ (vgl. ebd.: 208). Trotz ihrer ungewöhnlich hohen Mediendosen schließen auch Prozessbeteiligte von der Wirkung der Medien auf sie selbst auf ihre Wirkung auf andere Leute. Darüber hinaus glauben sie, dass die Medien auf andere eher einen negativen Einfluss ausüben als auf sie selbst („Andere Leute-Effekt“). Schmerzlich ist das vor allem für Prozessbeteiligte, die von den Medien negativ charakterisiert werden. Der Prozess gegen Jörg Kachelmann liefert dazu gutes Anschauungsmaterial.
Zudem vergleichen die Protagonisten der Strafverfahren ihre Sichtweise des Geschehens mit der Darstellung der Medien und entdecken erhebliche Unterschiede. Die befragten Juristen, die in den Medienberichten erwähnt werden, bemängeln wie andere Protagonisten der Medienberichte vor allem, dass die Umstände, unter denen sie gehandelt haben, falsch oder unzureichend dargestellt wurden (50%). Das führen sie, weil sie nicht wissen, dass die Darstellung auch eine Folge der unterschiedlichen Sichtweisen von Akteuren – hier der Prozessbeteiligten – und Beobachtern – hier der Gerichtsreporter – („Fundamentaler Attributionsfehler“) ist, auf die Unkenntnis und Uneinsichtigkeit der Journalisten zurück.
Das Zusammenspiel der intensiven Mediennutzung der Prozessbeteiligten und der aus ihrer Sicht falschen Darstellung mit der tatsächlichen Wirkung der Berichte auf sie selbst und auf andere sowie ihren übertriebenen Vermutungen über die Wirkung der Berichte auf andere ruft bei denjenigen, die in den Medien kritisiert werden, vor allem zwei Emotionen hervor: Ärger über die Art der Darstellung und Hilflosigkeit angesichts ihrer vermutlich negativen Wirkung auf ihr Ansehen. Selbst von den befragten Juristen, die Öffentlichkeit gewohnt sind und über alle Rechtsmittel zu ihrer Verteidigung verfügen, erlebt nach eigener Aussage nahezu jeder zweite (49% bzw. 43%) diese Emotionen.
Verstärkt werden die erwähnten Ursachen der Emotionen durch die Beobachtungen der Protagonisten in ihrer sozialen Umgebung: Nicht nur die Prozessbeteiligten verfolgen aufmerksam die Berichterstattung. Ähnlich verhalten sich ihre Freunde, Bekannten und Kollegen, und neben den Protagonisten werden auch sie von den Berichten beeinflusst, was sich bewusst oder unbewusst in ihrem Verhalten gegenüber den Prozessbeteiligten niederschlägt: Sie bilden sich eine Meinung über sie, suchen oder vermeiden den Kontakt zu ihnen, reden über sie usw. Die Prozessbeteiligten bemerken das zumindest zum Teil und erklären es sich zutreffend als Folge der Berichterstattung. Manche Verhaltensweisen führen sie aber irrtümlich auf die Berichterstattung zurück („Fehlattributionen“). Auch diese Irrtümer wirken sich, so lange sie sie nicht bemerken, auf ihr Verhalten gegenüber ihrem sozialen Umfeld aus. Die Folgen sind Rückkoppelungen, die sich nach Aussage der Richter und Staatsanwälte vor allem im Verhalten der Laien im Gerichtssaal niederschlagen – den Opfern, Angeklagten und Zeugen. Mehr als zwei Drittel der Juristen haben das beobachtet.
Damit bieten sich zwei Wege zur Erklärung der eingangs erwähnten Einflüsse der Medienberichte auf Strafverfahren an. Zum einen gibt es direkte Medienwirkungen auf die Prozessbeteiligten, die sich im Licht der Öffentlichkeit sehen: Zeugen melden sich und äußern sich sehr pointiert, weil sie die Öffentlichkeit suchen, bekannt werden wollen oder sich ein Medienhonorar versprechen. Andere verhalten sich genau umgekehrt, weil sie die Öffentlichkeit fürchten. Manche Angeklagte und Opfer gehen angesichts der Medienpräsenz aus sich heraus. Andere fühlen sich dadurch eingeschüchtert usw.
Deshalb haben nach den Beobachtungen fast aller befragten Juristen Medienberichte einen Einfluss auf „die Atmosphäre im Gerichtssaal“ (88%). Fast genauso viele (76%) sehen einen Einfluss auf „die Aussagen von Zeugen“ und immerhin jeder Zweite (46%) erkennt einen Einfluss auf „den Ablauf des gesamten Verfahrens“. Diesen direkten Effekten sind auch die Richter und Staatsanwälte ausgesetzt, was an den Emotionen deutlich wird, die sie bekunden. Zu den direkten Effekten gehört auch die Bereitschaft von einigen Richtern und Staatsanwälten, sich dem Medientenor anzupassen und entsprechend milder oder schärfer zu urteilen, und die Neigung anderer, sich dem Medientenor entschieden zu widersetzen und dabei u. U. über das Ziel einer neutralen Haltung hinauszuschießen.
Die direkten Effekte rufen zudem vielfach indirekte Effekte hervor. So führen die direkten Einflüsse der Medienberichte auf Opfer, Angeklagte und Zeugen dazu, dass sich die Richter und Staatsanwälte ein Urteil anhand der Verhaltensweisen und Aussagen von Personen bilden, die sich ohne die Berichterstattung der Medien anders benehmen würden: Die Sachlage stellt sich ihnen in diesen Fällen anders dar, weil sie sich einer medial veränderten Realität gegenüber sehen. Auch das steht hinter der eingangs erwähnten Aussage von Richtern und Staatsanwälten über den Einfluss der Medien auf die Höhe der Strafen. Schließlich wirken sich diese Faktoren u. U. indirekt auch auf die Angeklagten aus, weil sie höhere oder geringere Strafen erhalten und deshalb längere oder kürzere Zeit im Gefängnis verbringen müssen.
Diese indirekten Effekte treten theoretisch auch dann ein, wenn die Angeklagten die Berichterstattung über ihren Prozess überhaupt nicht verfolgt haben. Bei Ausländern, die kein Deutsch können, dürfte das der Normalfall sein. Aus den genannten Gründen ist ein zentrales Axiom der Medienwirkungsforschung – „There is no effect without contact“ – schlicht falsch. Diese Kritik trifft nicht nur auf die Analyse des Einflusses der Medien auf Strafverfahren zu. Sie verweist auf einen fundamentalen Irrtum der traditionellen Wirkungsforschung.
Literatur:
- Hamm, Rainer (1997): Große Strafprozesse und die Macht der Medien: Eine Vorlesungsreihe im Wintersemester 1995/96. Baden-Baden: Nomos.
- Kepplinger, Hans Mathias (2010): Indirekte Effekte auf Angeklagte in Strafprozessen. In: ders.: Medieneffekte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 205-218.
- Neuling, Christian-Alexander (2005): Inquisition durch Information. Medienöffentliche Strafrechtspflege im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren. Berlin: Duncker und Humblot.
- Wagner, Joachim (1987): Strafprozessführung über Medien. Baden-Baden: Nomos.
Erstveröffentlichung: Journalistik Journal Nr. 2/2012
Schlagwörter:Einfluss der Medien, Medienberichte, Medienwirkungen, Prozess, Strafverfahren, Wirkungsforschung