Leser lieben gut erzählte Geschichten

24. Oktober 2006 • Qualität & Ethik • von

Die Welt, 24. Oktober 2006

In den USA erzeugen narrative Texte bei Internetnutzern und Zeitungslesern neue Leselust. Taugt das als Vorbild für Deutschland?
Welch ein Frust! Journalisten wenden Stunden und Tage auf für Artikel und Zeitungsseiten, immer weniger Leser aber würdigen diese Arbeit eines Blickes. Kein Wunder, wenn zu wenig erzählt wird, behaupten amerikanische und deutschsprachige Forscher und Journalisten, die sich im Mediencampus Villa Ida in Leipzig trafen. Sie wollen narrativem Journalismus in Deutschland zu einer Zugkraft verhelfen, wie er sie in den USA längst hat.

Dort begann die Medienkrise früher als in Europa: Sinkende Auflagenzahlen und immer mehr Heranwachsende, bei denen zuhause keine Zeitung gelesen wird, mobilisierten Journalisten und Verleger Ende der achtziger Jahre, sich stärker am Leser zu orientieren. Ein Weg dorthin führt über einen höheren Anteil von narrativem Journalismus im Blatt. Journalisten, die sich einem solchen Stil zuwenden, verbinden Feature und Reportage mit Techniken der Romanschreiber, um Geschichten aus dem Alltag sowie Aktuelles spannender zu erzählen.

In den Sechzigerjahren brachten so genannte "New Journalists" wie Tom Wolfe, Norman Mailer und Hunter S. Thompson dieses Genre zu einer ersten Blüte, seit gut fünf Jahren erfährt es neuen Aufschwung. Universitäten in California-Irvine und Oregon sowie die Nieman Stiftung der Harvard Universität bieten Praxistrainings an für Hintergrundgeschichten, die das Zeitlose im Zeitgeist und das Ungewöhnliche im Alltäglichen suchen. Der Journalist und langjährige Journalistikprofessor Mark Kramer gehört zu den Protagonisten und gestaltet Kongresse mit. In Leipzig empfahl er den Journalisten einen "Bund der Verlässlichkeit" mit ihren Lesern: Absolute Faktentreue, keine fiktiv konstruierten Szenenbilder.

Ein Erzählstück kann kurz, rasch recherchiert und einleuchtend sein, verwies Jacqui Banaszynski auf Einwände vieler Verleger und Chefredakteure, die das Gegenteil befürchten. Eine Notiz im Polizeibericht bescherte der Journalistin und Professorin an der Missouri School of Journalism eine Geschichte über ein Mädchen, das über sich hinauswuchs. In einem Nebensatz stand, die Elfjährige habe Hilfe geholt in einem sehr weit entfernten Bauernhof. Nach zwei Stunden Recherche malte die Reporterin das Bild eines schüchternen Kindes, das sich in jener kalten Nacht ein Herz fasste, weil Mutter und Bruder verletzt im Auto festsaßen. Was Einzelnen widerfährt, ist erzählenswert, wenn sich eine Botschaft von größerem Interesse bebildern lässt, sagte Banaszynski und erklärte das am Beispiel der preisgekrönten Geschichte einer Kollegin der "Los Angeles Times". Die Autorin erzählte über die Suche eines Jungen aus Honduras nach seinen Eltern zugleich das Schicksal vieler Einwanderer nach Amerika. Hier war der Aufwand groß: Sie brauchte ein Jahr bis die sechsteilige Story geschrieben war – und einschlug: Tausend Mails trafen in der Redaktion ein, mancher Leser erzählte seine eigene Geschichte. "Wir wissen nicht, ob sich die Auflage erhöht, wenn mehr erzählende Texte im Blatt sind", resümiert Banaszynski: "Sicher ist, dass die Marke der Zeitung gestärkt wird." Leser empfinden ihre Zeitung als glaubwürdiger, jüngere schauen eher ins Blatt, gerade auch kleinere Zeitungen können sich profilieren.

Der Leipziger Journalistikprofessor Michael Haller rechnete vor: "400 bis 600 Euro für Marketing kostet es, einen Leser zurück zu gewinnen." Es sei viel günstiger, vorbeugend in Qualität und Leserbindung zu investieren – und höchste Zeit: Er beobachtete Leser über Readerscan-Stift (er zeichnet den Lesefluss nach) und Eyetracking (Pupillenbewegungen zeigen, wo der Leser verweilt) und analysierte Texte aus 40 deutschen Zeitungen, um zu ermitteln, was "der Leser" will: Dynamik. Das bedeutet: Aufräumen mit den alten Fehlern – wenig starke Verben, viel Passiv, viel Nominalstil – und mehr erzählen. Die alte Idee, einfach kürzere Texte zu drucken, greife nicht. Doch wer will das hören?

In Leipzig versammelten sich Journalisten, die längst offen sind für einen Journalismus, der mit allen Sinnen Wirklichkeit erfassen will. "In jedem Satz muss eine Nachricht stecken. Ich erzähle Geschichten nicht als spielte ich zum Zeitvertreib Banjo, ich will etwas mitteilen", erklärte Anne Hull ("Washington Post"). Wolfgang Büscher ("Die Zeit") warb für die "strukturierende Kraft" des Autoren-Ichs, vor allem, wenn der Autor etwas erlebt hat, das wesentlich ist für den Verlauf der Geschichte. Jürgen Leinemann ("Der Spiegel") riet zur Selbstreflexion: "Ich muss wissen, ob ich einen mag, ehe ich ihn beschreibe, um beim Bewerten Person und Sache unterscheiden zu können."

Als Kramer in Harvard das erste Treffen zu erzählendem Journalismus ausschrieb, kamen 300 Leute, beim dritten schon tausend. Die Leipziger Veranstaltung will einen ähnlichen Impuls setzen. Doch viele, auf die es ankäme, fehlten: Kein Chefredakteur einer Regionalzeitung war der Einladung gefolgt, manche Verlage schickten quasi stellvertretend einen Redakteur. Es kommt nun darauf an, wie er in der Redaktion empfangen wird. Je mehr Kollegen sich lebendigerem Schreiben verpflichten, desto weiter öffnen sich Türen für alle: Texte auf Augenhöhe finden Leser.

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