„Als einer, der die New York Times beinahe täglich seit über 50 Jahren liest, beschämt mich, was die Times heute ist – im Vergleich zu dem, was sie einmal war.“ So lautet einer von zahlreichen Leserkommentaren zu den Kolumnen, die amerikanische Medien-Ombudsleute publizieren und die Gegenstand einer kürzlich veröffentlichten Studie geworden sind.
Stephanie Craft (Universität Illinois), Tim Vos und David J. Wolfgang (Universität Missouri) untersuchten über zwei Jahre hinweg insgesamt 30.000 Kommentare zu Online-Artikeln von Ombudsleuten des National Public Radio (NPR), der Washington Post und der New York Times. Die Ombudsleute sind dazu da, Beschwerden nachzugehen und darauf angemessen zu reagieren. In den USA sind sie – anders als in Deutschland und der Schweiz – aber meist auch als Kolumnisten tätig. Sie werden so sichtbar zum Bindeglied zwischen Redaktion und Publikum, indem sie mit den Lesern in einem Austausch stehen.
Viele der Leser-Kommentatoren scheinen eine gewisse Nostalgie für Zeiten zu empfinden, in denen Grundwerte des Journalismus konsequenter gelebt wurden als heute, bilanzieren die Forscher. Sie weisen auch darauf hin, dass die untersuchten Kommentare nicht repräsentativ für die Mehrheit der Mediennutzer sind. Trotzdem sei ihre Wirkung nicht zu unterschätzen. Die in den Kommentaren formulierte Kritik basiere meist auf traditionellen Qualitätskriterien wie Objektivität, Unvoreingenommenheit und Neutralität. Die Leser kritisierten, dass die Journalisten vermehrt als reine Stenografen agierten. Es würde nur noch über Sachverhalte berichtet, ohne dass deren Inhalte analysiert und in einen Kontext eingebettet würden.
Im Zentrum der Berichterstattung stünden auch erkennbar oft Förderung und Interessen von Werbetreibenden und Sponsoren. Dazu komme, dass sich die Journalisten aus Sicht der Leser vermehrt auf voreingenommene Quellen, sprich PR-Zulieferungen, stützten. Die Kommentare verdeutlichen nach Ansicht der Forscher, wie sehr Leser noch immer eine kohärente Vorstellung davon haben, was sie von professionellen Journalisten erwarten. Dabei sei eine gewisse Nostalgie spürbar. Viele Leser sind offensichtlich der Meinung, dass die Qualität der Berichterstattung früher in Bezug auf Objektivität und Neutralität besser gewesen sei.
Den Anstoß zur Studie gab 2012 ein intensiver Dialog zwischen dem Chefredakteur der New York Times und ihren Lesern, bei dem es um die Rolle und die Pflichten von Journalisten ging. Die Forscher betonen die Bedeutung dieses Austauschs; der Chefredakteur einer namhaften Zeitung habe die Leserschaft um Mithilfe gebeten, die Aufgabe der Journalisten neu zu definieren. Eine solche Form der Leser-Partizipation habe es bis dato kaum je gegeben.
In den USA unterhalten mehr Redaktionen Ombudsleute als in Europa, obschon auch dort inzwischen einige Ombudsstellen eingespart wurden, darunter auch die der Washington Post, die in die Studie noch mit einbezogen war. Das National Public Radio (NPR) und die New York Times zählen zu den Medien, deren Ombudsleute mit ihren Beiträgen besondere Beachtung finden.
Ihre Interaktion mit dem Publikum dürfte sogar dazu beitragen, Standards im journalistischen Handwerk zu überdenken. Auf jeden Fall wirkt sie dem Verlust von Glaubwürdigkeit der Medien entgegen. In gewisser Weise könnte damit auch Jürgen Habermas’ Postulat wieder Geltung erhalten, wonach die Bedingungen journalistischer Leistungen in einem öffentlichen Diskurs immer wieder neu verhandelt werden sollten.
Craft, Stephanie / Vos, P., Tim / Wolfgang, David, J. (2016): Reader comments as press criticism: Implications for the journalistic field, Journalism, Vol. 17 (6), 677-693.
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