Häufig werden die Medien im öffentlichen Diskurs als Auslöser unliebsamer sozialer Entwicklungen angeprangert. Solche Schuldzuweisungen stilisieren Journalismus jedoch zu einer omnipräsenten Allmacht, die er nicht ist. Die Behauptung „starker Medieneffekte“ ist veraltet und fast schon unterwürfig, kommentiert EJO-Redakteur Roman Winkelhahn.
Der US-amerikanische Soziologe Paul Lazarsfeld war es, der erstmals feststellte, dass Medienrezipienten und Pawlowsche Hunde weniger gemein haben, als das die damalige Medienwirkungsforschung gerne annahm (vgl. Bryant, Thompson & Finklea, 2013). Zwar werden die Vertreter der Theorie „starker Medieneffekte“ sowie ihre Theorie selbst in einigen Lehrbüchern heute stärker verteufelt als überhaupt nötig, zweifellos lässt sich jedoch feststellen, dass es vielen ihrer Modelle an Dimension gemangelt hat – nicht jedoch an einer Vorliebe für Stimulus-Response-Psychologie.
Die Nachwirkungen jener Annahmen, die auf Propaganda-Erfahrungen im frühen 20. Jahrhundert und einem paternalistischen Blick auf Menschen als passive, irrationale Wesen gründeten und starke Medieneffekte postulierten, zeigen sich noch heute. An die Stelle von Sittenromanen als Gefahr für eine antifeministische Geschlechterordnung, Komikbüchern als Verursacher von Gewaltfantasien bei Kindern und den Fernseher, der bekanntlich die Augen eckig macht, treten heute ganz pauschal „die Medien“.
Medien „wirken“ nicht allein
Was alle Vertreter der Theorie starker Medieneffekte seit jeher eint, ist die These, Medienbotschaften und Mediennutzung würden in bedeutend hohem Maße die öffentliche Meinung und das kollektive Verhalten der Rezipienten beeinflussen und prägen. Heute wissen wir, dass es durchaus nachweisbare Effekte von Mediennutzung auf kognitive Konstrukte wie Vertrauen in Institutionen oder das Selbstbild gibt – die Erklärungsansätze solcher Phänomene weisen jedoch stets disziplinübergreifende Elemente auf: aus der Soziologie (bspw. mit Blick auf Geschlecht oder Bildung, vgl. Jakobs et al., 2021), aus der Politologie (bspw. in der Forschung zu Medienvertrauen als Teil des Gesamtkonstrukts Vertrauen in Institutionen, vgl. Tsfati & Ariely, 2014) und vor allem aus der Psychologie (bspw. in der Forschung zu den Folgen von Social-Media-Nutzung für die psychische Gesundheit junger Menschen, vgl. Aalbers et al., 2018).
Außerhalb des Akademischen fehlt es der Diskussion um die Macht der Medieneffekte allerdings oft an dieser entscheidenden Interdisziplinarität. Und so erinnern aktuelle Diskussionen zur Wirkungsmacht der Medien zuweilen stark an das Hypodermic-Needle-Modell, welches die Medien als Injektion, die alle Mitglieder der Gesellschaft gleich trifft, metaphorisiert – eine Vorstellung, die sich vor allem bei Propaganda-Theoretikern großer Beliebtheit erfreute. Allerdings wurde dieses Modell spätestens mit Westleys und MacLeans Modell kommunikativer Rückkopplungen von 1957 widerlegt.
Bis die Echokammern leer sind?
Nichtsdestotrotz finden pauschale Schuldzuweisungen gegenüber den Medien noch immer statt—und zwar in zwei Lagern: Für die einen sind es die Medien, vor allem die öffentlich-rechtlichen, die angeblich Staatspropaganda betreiben und Menschen dazu drängen, sich gegen eine potenziell tödliche Krankheit impfen zu lassen; für die anderen heißt das Problem „Echokammern“ – digitale Räume in den sozialen Netzwerken, in denen sich bestimmte Gruppen („die Rechten“) gegenseitig in ihren Ansichten und Weltbildern bestätigen, dissonante Informationen konsequent ausblenden und sich so gegebenenfalls radikalisieren. Beiden Lagern ist eine unzulässige Vereinfachung von Sachverhalten vorzuwerfen, die selbst viel zu komplex sind, um sie in Schablonen mit der Aufschrift „Die Medien sind schuld“ zu pressen (für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Echokammer“ vgl. Karlsen et al., 2017).
So unterschiedlich beide Gruppen in ihrer Argumentation auch sein mögen, mindestens eine Sache haben sie gemein: Letztendlich führen ihre Bemühungen, die Medien oder die sozialen Medien als Übeltäter darzustellen, nämlich auf dasselbe zurück, und zwar auf die Absicht, selbst Einfluss auf diese Medien ausüben zu können. Das zeigt sich zum einen in Forderungen nach stärkerer behördlicher Intervention in die Kommunikation auf Facebook und anderen Plattformen und zum anderen in „Fake News“-Rufen und kruden Anschuldigungen gegen angeblich staatlich kontrollierte Rundfunkanstalten, die manch ein „Querdenker“ gerne abgeschafft sehen würde.
Glaube an Medieneffekte gibt Halt
Medieneffekten ihre Stärke abzusprechen, heißt nicht, zu leugnen, dass Medien einen ständigen Einfluss auf unser Denken und Handeln haben. Es heißt vielmehr, Rezipienten in diesem Prozess eine aktive, rationale und selektive Rolle zuzusprechen. Es heißt nicht, die Existenz von Echokammern in den sozialen Medien und die Gefahr, die von ihnen ausgehen kann, zu leugnen, sondern zu verstehen, dass sich die öffentliche Debatte im Internet nicht auf solche simplen Modelle reduzieren lässt (bspw. finden sich aktuelle Überlegungen zur agonistischen Kommunikation in den sozialen Medien bei Frieß & Gilleßen, 2022).
Die in der Allgemeinheit noch immer weit verbreitete Annahme „starker Medieneffekte“ hat etwas Unterwürfiges, ja fast schon Frommes. Der Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo schrieb 2017 gar vom 21. Jahrhundert als „Epoche des Mediennihilismus“. Schuldzuweisungen an die Medien – egal ob von links oder rechts – folgen jedoch einem simplen menschlichen Bedürfnis (übrigens genauso wie Verschwörungstheorien, vgl. dazu die Ausführungen zu „Projektivität“ in Schließler, Hellweg & Decker, 2020): Sie dienen dazu, in wirren Zeiten Klarheit zu schaffen und Verantwortung zuzuschreiben. Im Ganzen betrachtet scheint es daher viel zu pauschal, den Medien Schuld an gesellschaftlicher Spaltung, verstörten Selbstbildern oder Generationenverdummung vorzuwerfen – aber irgendein Täter ist oft besser als keiner.
Literatur
Aalbers, G., McNally, R.J., Heeren, A., De Wit, S. & Fried, E.I. (2018). Social Media and Depression Symptoms: A Network Perspective. Journal of Experimental Psychology: General, 148(8), 1454-1462. https://doi.org/10.1037/xge0000528
Bryant, J., Thompson, S. & Finklea, B. W. (2013). Fundamentals of Media Effects (2. Aufl.). Waveland Press.
Frieß, D. & Gilleßen, R. (2022). Agonistische Online-Öffentlichkeiten: Vorschlag einer inhaltsanalytischen Operationalisierung von Agonismus. Publizistik. https://doi.org/10.1007/s11616-021-00704-w
Jakobs, I., Jackob, N., Schultz, T., et al. (2021). Welche Personenmerkmale sagen Medienvertrauen voraus? Der Einfluss von Charakteristika der Rezipientinnen und Rezipienten auf Vertrauen in Medien im Zeitverlauf. Publizistik, 66, 463-487. https://doi.org/10.1007/s11616-021-00668-x
Karlsen, R., Stehen-Johnson, K., Wollebaeck, D. et al. (2017). Echo chamber and trench warfare dynamics in online debates. European Journal of Communication, 32(3), 257-273. https://doi.org/10.1177/0267323117695734
Schließler, C., Hellweg, N. & Decker, O. (2020). Aberglaube, Esoterik und Verschwörungsmentalität in Zeiten der Pandemie. In O. Decker & E. Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken: Alte Ressentiments—neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020 (S. 283-308). Psychosozial-Verlag.
Tsfati, Y., & Ariely, G. (2014). Individual and Contextual Correlates of Trust in Media Across 44 Countries. Communication Research, 41(6), 760–782. https://doi.org/10.1177/0093650213485972
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Schlagwörter:Echokammern, Medieneffekte, Paul Lazarsfeld, Soziologie, Verschwörungstheorien