Medientheorien – verkrustet oder zeitlos?

27. November 2013 • Qualität & Ethik • von

Seit jeher ordnen Medienwissenschaftler die Medienbetriebe verschiedener Länder bestimmten Mediensystemen zu, erklären bestimmte Charakteristika im Kontext. Seit einigen Jahren dominieren in der internationalen Forschung die Konstrukte der Wissenschaftler Daniel Hallin und Paolo Mancini vom nordeuropäischen, demokratisch-korporatistischen System wie in Deutschland oder der Schweiz, vom mediterranen, polarisiert-pluralistischen System in Ländern wie Frankreich und Italien und vom nord-atlantischen, liberalen System in den USA und Großbritannien.

Doch spiegeln diese theoretischen Konstrukte überhaupt die Realität, sind sie veraltet oder enthalten sie grundsätzliche Denkfehler? Die beiden Medienwissenschaftler Frank Esser und Andrea Umbricht von der Universität Zürich gingen dieser Frage nun nach, indem sie Medien aus den USA, Großbritannien, Deutschland, der Schweiz, Frankreich und Italien in einer groß angelegten Studie untersuchten.

Sie wählten bewusst jeweils zwei Vertreter der bisher beschriebenen Systemtypen aus, um ihre Berichterstattung zu analysieren. Ihr Fazit: Im Großen und Ganzen gehen Hallins und Mancinis Theorien auf. Doch im Detail müssen sie dringend überdacht und angepasst werden. Denn sowohl das Ideal der unabhängigen Berichterstattung im anglo-amerikanischen Raum als auch das meist etwas abschätzige Bild von den polarisierenden Medien in den südeuropäischen Ländern sind übertrieben.

Umbricht und Esser orientieren ihre Studie an der Theorie, dass sich Medienunternehmen innerhalb einer Nation ähnlich entwickeln, weil sie ähnlichen politischen, rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen unterliegen. Vor diesem Hintergrund griffen die beiden Autoren, die sich auf Print-Produkte konzentrierten, jeweils eine regionale und eine überregionale Tageszeitung sowie eine Wochen-Zeitung pro Nation heraus (detaillierte Liste siehe unten) und bezogen sie kumuliert in ihre Untersuchung ein. Innerhalb ihrer Untersuchungswochen in den Jahren 1961/62 , 1972/73, 1994/95 und 2006/07 sammelten Umbricht und Esser insgesamt 6.525 politische Artikel, die sie auswerteten. Eine zeitliche Entwicklung zeigen sie in der Studie nicht auf, sie fassen stattdessen die Berichterstattung der verschiedenen Jahrzehnte zusammen.

Die Wissenschaftler stellten dabei auf drei Kriterien ab, die häufig als Unterscheidungsmerkmale der bisher gezeichneten Medienmodelle genannt werden: Den Anteil meinungslastiger Artikel an der politischen Berichterstattung, der in den mediterranen Ländern als besonders hoch eingeschätzt wird; das Maß der Objektivität der Berichterstattung, das besonders im nord-atlantischen Raum als Wert hochgehalten wird; und den Anteil negativer Berichterstattung, der sich aus Sicht bisheriger Forschung aufgrund einer polarisierten Situation in der Gesellschaft (mediterrane Regionen) oder aufgrund von starkem ökonomischem Druck auf die Medien (USA, Großbritannien) in den verschiedenen Ländern erhöhen kann.

Um den Meinungsanteil in der Berichterstattung zu ermitteln, untersuchten die Autoren, wie oft verschiedene Formate in ihren Samples auftraten, wobei sie harte Nachrichten und lange Hintergrundberichte mit Kontext als meinungsfreie Formate ansahen, Interpretationen und Analysen als Formen im Graubereich zwischen Meinung  und Information werteten und Kommentare, Kolumnen und Editorials zur Sparte Meinung zählten.

Wie bisherige Medientheorien erwarten lassen, macht Meinung in der Berichterstattung der US-Medien laut der Untersuchung der Schweizer Wissenschaftler einen viel geringeren Anteil aus als in den anderen Ländern. Nur zehn Prozent der untersuchten Artikel sind in Kommentarform, als Kolumnen oder Editorials gehalten. In Großbritannien sind dies schon 16 Prozent, in Deutschland 18 Prozent und in Frankreich sogar 27 Prozent der Artikel – mehr als in Italien, das häufig als der Inbegriff der polarisierten Berichterstattung genannt wird.

Allerdings fällt der Anteil der Nachrichtenstücke in den US-amerikanischen Medien vergleichsweise gering aus, mit 15 Prozent der Berichterstattung haben sie in den Staaten kaum mehr Gewicht als in Frankreich (9 Prozent) und in Italien (13 Prozent), wohingegen in Deutschland 29 Prozent aller untersuchten Stücke Nachrichten sind.

„Auch wenn die ursprüngliche Hypothese durch unsere Ergebnisse bestätigt wird, ist bemerkenswert, dass die Trennlinie zwischen verschiedenen bisher definierten journalistischen Stilen weniger klar verläuft als die theoretischen Modelle erwarten lassen“, kommentieren die Autoren diesen Befund. Sie betonen, dass die US-Medien einen starken Fokus auf Hintergrundberichte und auf Analysen oder Interpretationsstücke legen, die 42 beziehungsweise 32 Prozent der Berichterstattung ausmachen. Damit liegen die US-Journalisten gar nicht so weit von den französischen und italienischen Medienmachern weg, die jeweils 39 Prozent beziehungsweise 27 Prozent ihrer Berichterstattung hintergründig ausrichten. Interpretation und Analyse machen in Frankreich dagegen lediglich 19 Prozent der Formate aus, in Italien immerhin noch 26 Prozent.

An den Formaten Interpretation und Analyse wird häufig kritisiert, dass sie Journalisten Hintertüren öffnen, um doch Meinungselemente in die Berichterstattung einzuflechten und die politische Kommunikation zu lenken. Insofern verschiebt der große Anteil dieser Formen in den US-Medien die bisherigen Einschätzungen der Wissenschaft ein wenig, während die italienische und französische Berichterstattung eher durch die große Anteile von Hintergrundberichten überrascht.

Die beiden Schweizer Autoren bewerten die Formate Interpretation und Analyse nicht weiter, sie geben lediglich mit Blick auf das idealisierte Bild des unabhängigen, liberalen anglo-amerikanischen Journalismus zu bedenken: „Dieses Bild scheint eine Kategorie mit sehr begrenztem, eher historischem Wert zu sein. In der Praxis erfüllen amerikanische und britische Journalisten diese Ideal-Vorstellungen nur mehr oder weniger erfolgreich, in keinem Fall jedoch durchgängig.“ Vor allem die britischen Medien zeigen in den Augen der Forscher auch einige Merkmale anderer Mediensysteme als denen des anglo-amerikanischen, da sie häufig polarisierende Elemente in ihre Berichterstattung einbauen.

Diese Diskrepanz zwischen der Klassifikation der britischen Journalisten als besonders unabhängige, vorbildliche Reporter einerseits und der Realität der Medienarbeit andererseits zeigt sich noch stärker, wenn man das Maß an objektiver Berichterstattung betrachtet. Laut der Studie Umbrechts und Essers liegen die britischen und die französischen Medien in puncto Objektivität nur gleichauf. Dies ergibt sich aus einem speziell konzipierten Objektivitätsindex, dem die Forscher bestimmte Kriterien zugrunde gelegt haben. Sie hinterfragten bei der Codierung der Artikel etwa: Zitieren die Medien Experten? Stellen die Medien verschiedene Seiten und Blickwinkel zu einem Thema vor? Wie stark orientiert sich das Medium an Fakten und werden diese ordentlich von Meinungselementen getrennt?

Die britischen Medien wandten diese Muster, die Näherungswerte für objektive Berichterstattung liefern sollen, offenbar recht selten an. Genauso wie ihre französischen Kollegen kommen sie nur auf etwas über die Hälfte der möglichen Objektivitätspunkte auf dem Index. Die deutschen Journalisten erreichten mit ihren Berichten hingegen 64 Prozentpunkte auf diesem Index, die US-Medien sogar 69 Prozent. Nur italienische Journalisten berichteten nach der Messung der Schweizer Wissenschaftler noch weniger objektiv als die Briten und Franzosen.

Mit ihrer Arbeit betonen die Autoren auch die Bedeutung negativ ausgerichteter Berichterstattung für die Rolle, die Medien in einer Gesellschaft einnehmen. Ein negativer Tenor in der politischen Berichterstattung kann den Zynismus innerhalb der Bevölkerung steigern. In der bisherigen Forschung wird negativ konnotierte Berichterstattung eher den Medien im mediterranen Raum zugeschrieben, die demnach Konflikte zwischen politischen Lagern offen legen und teilweise zusätzlich betonen, um eine bestimmte Zielgruppe im Publikum anzusprechen.

Tatsächlich zeigt auch Essers und Umbrechts Studie, dass die südeuropäischen Medienunternehmen häufig mit einem negativen Duktus berichten. Wiederum legen die Forscher diesem Merkmal einen Index mit gewissen Kriterien zugrunde: Werden Skandale um persönliche oder berufliche Verfehlungen von Politikern in den Mittelpunkt gerückt? Fokussieren sich die Medien auf die Misserfolge der Politiker und nennen Erfolge bewusst nicht? Betonen die Medien in der Berichterstattung die Konfliktlinien zwischen verschiedenen politischen Lagern?

Die italienischen Medien erreichten in der Studie 54 Prozentpunkte auf diesem Index der negativen Grundhaltung, die französischen Medien liegen noch bei 52 Prozent, während das als konsens-orientiert beschriebene Deutschland tatsächlich nur auf 38 Prozentpunkte kommt. Es liegt damit weit unter dem Wert der USA und Großbritannien, bei denen sich mit 43 beziehungweise 48 Prozent negativer Berichterstattung auf dem Index möglicherweise tatsächlich der hohe Konkurrenzdruck spiegelt.

Besonders stark unterscheiden sich die Medien darin, inwiefern sie Konfliktlinien zwischen politischen Lagern und Gruppen in den Vordergrund stellen und so das Bild von einem politischen Apparat zeichnen, der vor lauter Streit zwischen den politischen Lagern beinahe handlungsunfähig ist: Die italienischen Medienberichte erreichen hier 74 Prozent auf dem Index der Forscher, die Kollegen in Frankreich liegen zehn Punkte darunter –  offenbar beschreiben die meisten der Artikel dort verhärtete politische Fronten.

Die Schweizer Medien verzeichnen nur 40 Prozent auf dem Index, während es in Großbritannien immerhin 52 Prozent sind. Beim Vereinigten Königreich fällt besonders auch die skandalfokussierte Berichterstattung auf, wie man sie etwa bei der Berichterstattung der ehemaligen News of the World Redaktion beobachten konnte. Für exklusive Informationen unternahm die mittlerweile aufgelöste Redaktion sogar Abhöraktionen. Großbritannien zählt inpuncto Skandalberichterstattung 27 Prozent auf dem Index der Forscher, nur in Frankreich gibt es mit 30 Prozentpunkten noch mehr Skandal-Berichte.

Grundsätzlich sehen die Forscher die bisherigen Annahmen über die Medienunternehmen in den jeweiligen Ländern bestätigt. Doch sie mahnen, die idealisierten Bilder, die in der Wissenschaft vor allem über die britischen Medien nach wie vor kursieren, zu überdenken. Mit Verweis auf eine weitere eigene Längsschnittstudie, die Entwicklungen der einzelnen nationalen Medien im Verlauf der Zeit untersucht, schreiben die Autoren: „Nach und nach scheinen sich die britischen Printmedien immer stärker an die kontinental-europäischen Medien anzunähern und sich von den US-Zeitungen wegzuentwickeln.“

Sie empfehlen die Zuordnung der britischen Medien zu einem System neu zu überdenken, da das gemeinsame anglo-amerikanische Modell eher unpassend sei. Für künftige Studien dazu geben sie schon einmal einen Ausblick auf mögliche interessante Forschungsaspekte: „Besonders interessant ist, dass die britischen Zeitungen immer stärker auf polarisierende Elemente in ihrer Berichterstattung setzen.“ Was dies langfristig bedeute, müsse noch untersucht werden.

Untersuchte Medien

Liberales Mediensystem

USA: New York Times, St. Luis Post-Dispatch, Time Magazine

Großbritannien: The Times, Birmingham Mail, The Observer

Demokratisch-korporatistisches Mediensystem

Deutschland: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Rheinische Post, Spiegel

Schweiz: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Berner Zeitung, Weltwoche

Polarisiert-pluralistisches Mediensystem

Frankreich: Le Monde, Ouest France, L’Express

Italien: Corriere della Sera, Resto del Carlino, Espresso

 

Esser, Frank; Umbricht, Andrea (2013): Competing models of journalism? Political affairs coverage in US, British, German, Swiss, French and Italian newspapers. In: Journalism, 14. Jg., H. 8, S. 989-1007.   

 

Bildquelle: spotreporting/Flickr CC

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