Newsletter-Revival: Vom Journalisten zum Gründer

2. November 2021 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Newsletter bieten eine große redaktionelle Freiheit und sind ein effizientes Tool, um Zielgruppen direkt anzusprechen. Die Journalisten, die sie erstellen, sind jedoch mit einer Reihe von Aspekten aus dem Unternehmertum konfrontiert, die nicht ohne Auswirkungen auf ihre journalistische Produktion bleiben.

Der Newsletter hat in den vergangen zehn Jahren einen Aufschwung erlebt – was in einer Zeit, in der die jüngere Generation sich vor allem über Messenger austauscht und sich bei den älteren Generationen die Nachrichten in den Postfächern stapeln, überraschend oder sogar paradox erscheint. Etwa 56 % des weltweiten E-Mail-Verkehrs wird als Spam eingestuft (Faris et al., 2019; June, 2021; Vergelis et al., 2020).

Ein Newsletter kann aber tatsächlich dazu genutzt werden, Inhalte mit einem hohen Informationswert zu liefern. Er bietet ein großes journalistisches Potenzial, das über die bloße Auswahl von Links hinausgeht.

So entstehen fortwährend neue Newsletter, und es verlassen sogar erfahrene Journalisten ihre Redaktionen, um sich in diesem Bereich als Freiberufler niederzulassen (Denayrouse, 2017; Holcomb, 2018; Levite, 2021). Journalisten, die ein solches Projekt in Angriff nehmen, haben dabei eine Doppelrolle inne: Sie werden sozusagen (auch) zum Unternehmer. Denn die Erstellung eines Newsletters ist vergleichbar mit der Gründung eines neuen Mediums (Parrish, 2017; Strauss, 2020; Tracy, 2020). Neben journalistischen Fähigkeiten braucht es Wissen und Fertigkeiten aus den Bereichen Marketing, Kommunikation, Publikumsforschung und neuen Geschäftsmodellen – Bereiche aus der Welt des Unternehmertums, die in diesem Fall auf den journalistischen Bereich angewendet werden. Aus dem Zusammentreffen dieser beiden Welten entsteht der unternehmerische Journalismus.

Wie Anderson (2014) bemerkt, bleibt die Definition dieses Begriffs vage, es kann jedoch festgehalten werden, dass die Bereiche Journalismus und Unternehmertum durch einen zentralen Aspekt miteinander verbunden werden: die Fokussierung auf die Nutzerperspektive.

Moloney (2018) empfiehlt beispielsweise, dass die Initiatoren von Medienprojekten über ihre persönliche Vision hinausgehen und die Sichtweise der Nutzerschaft berücksichtigen, so wie es auch jeder gute Journalist tun würde: „Geschichten sollten für den Leser produziert werden, nicht für den Journalisten selbst” (S. 90).

Zudem sollte versucht werden, Lücken im bestehenden Angebot zu füllen. So lautet auch eines der Dogmen in der Welt des Unternehmertums und der Innovationen im Allgemeinen (Cooper & Vlaskovits, 2013).

Überlegungen zu Zielen und Zielgruppen und wie man sich am besten von der Konkurrenz abgrenzt, sind natürlich nicht neu. Die Bedürfnisse einer bestimmten Zielgruppe zu berücksichtigen, wird aber noch wichtiger, wenn man den Nutzen- und Belohnungsansatz heranzieht. Dieser geht davon aus, dass Nutzer bei ihrem Medienkonsum nicht passiv sind – vielmehr neigen sie dazu, Entscheidungen entsprechend ihren Interessen, Bedürfnissen und Zielen zu treffen (Rubin, 2009). Da mit der zunehmenden Anzahl an Vertriebskanälen dieser Prozess an Bedeutung gewinnt (Ruggiero, 2000), ist es für Medien eine heikle Aufgabe geworden, die sich ändernden Erwartungen der Nutzerschaft zu verstehen und Produkte zu schaffen, die ihren Erwartungen entsprechen (Chaplin, 2016).

Journalisten, die einen Newsletter erstellen, befinden sich in einem Spannungsfeld. Einerseits verfolgen sie journalistische und redaktionelle Ziele, andererseits werden sie mit einer unternehmerischen Logik konfrontiert, die als wesentlich für das Funktionieren und den Erfolg ihres redaktionellen Projekts gilt (Damian-Gaillard et al, 2009; Salles, 2019).

Diese Doppelbelastung kann sich auch auf das persönliche Wohlbefinden auswirken. Viele Journalisten berichten über zunehmenden Stress und ein allgemeines Gefühl schlechter Gesundheit (Deuze & Witschge, 2018). Die Wirtschafts- und Legitimationskrise im Mediensektor hebt die große Bedeutung unternehmerischen Denkens noch hervor (Anderson, 2014), das mittlerweile nicht nur von freiberuflichen Journalisten, sondern auch von Angestellten in Redaktionen erwartet wird. Natürlich sollte der redaktionelle Inhalt aber nicht zugunsten der unternehmerischen Perspektive vernachlässigt werden. Im Idealfall lässt sich beides gut miteinander verbinden (bzw. trennen), wie zum Beispiel bei der französischen Online-Zeitung Médiapart. Von den 120 festangestellten Beschäftigten des Unternehmens arbeiten mehr als die Hälfte im „operativen Geschäft“. Médiapart legt großen Wert darauf, die Funktionen und Rollen der einzelnen Mitarbeiter klar zu trennen.

Auch bei der Newsletter-Erstellung kann es sinnvoll sein, in einem Team zu arbeiten, um sich bei Entscheidungen gegenseitig zu konsultieren und/oder die Rollen der einzelnen Personen klar zu trennen – wie beim täglichen Newsletter brief.me, aus dem ein eigenes Unternehmen mit mehreren Beschäftigten geworden ist. Es scheint jedoch, dass dieses Modell derzeit eher die Ausnahme als die Regel ist, da ein großer Teil der Newsletter von Freiberuflern verfasst und produziert wird, die Schwierigkeiten haben, damit ein nennenswertes Einkommen zu erzielen.


Bibliographie

Anderson, C. W. (2014). The Sociology of the Professions and the Problem of Journalism Education. Radical Teacher99, 62‑68. https://doi.org/10.5195/rt.2014.108

Chaplin, H. (2016). Guide to Journalism and Design. Tow Center for Digital Journalism: Columbia Journalism School. https://www.cjr.org/tow_center_reports/guide_to_journalism_and_design.php/

Charon, J.-M. (2008). Introduction. In La presse magazine (p. 5‑7). La Découverte. https://doi.org/10.3917/dec.charo.2008.01

Cooper, B., & Vlaskovits, P. (2013). The lean entrepreneur : How visionaries create products, innovate with new ventures, and disrupt markets [Electronic resource]. Wiley. http://catalogimages.wiley.com/images/db/jimages/9781118295342.jpg

Damian-Gaillard, B., Rebillard, F., & Smyrnaios, N. (2009). La production de l’information web : Quelles alternatives ? Une comparaison entre médias traditionnels et pure-players de l’internet. New Media and Information: convergences & divergences, Athènes.

Denayrouse, C. (2017, mars 10). La newsletter, ce (vieux) truc si chic. Tribune de Genève. https://www.tdg.ch/high-tech/newsletter-vieux-truc-chic/story/14052920

Deuze, M., & Witschge, T. (2018). Beyond journalism : Theorizing the transformation of journalism. Journalism19(2), 165‑181. https://doi.org/10.1177/1464884916688550

Faris, H., Al-Zoubi, A. M., Heidari, A. A., Aljarah, I., Mafarja, M., Hassonah, M. A., & Fujita, H. (2019). An intelligent system for spam detection and identification of the most relevant features based on evolutionary Random Weight Networks. Information Fusion48, 67‑83. https://doi.org/10.1016/j.inffus.2018.08.002

Grevisse, B. (2019). Écritures journalistiques : Stratégies rédactionnelles, multimédia et journalisme narratif. De Boeck Supérieur.

Holcomb, J. (2018). Digital Adaptation in Local News. https://doi.org/10.7916/D8-NHBP-ST96

June, S. (2021, juillet 10). Could Gen Z Free the World From Email? The New York Times. https://www.nytimes.com/2021/07/10/business/gen-z-email.html

Lévite, B. (2021, juillet 6). Le futur des médias s’écrit en newsletters. In Tout un Monde. Radio-Télévision Suisse (RTS). https://www.rts.ch/play/radio/emission/tout-un-monde?id=7006364

Moloney, K. (2018). Designing Transmedia Journalism Projects. In R. R. Gambarato & G. C. Alzamora (Éds.), Exploring Transmedia Journalism in the Digital Age: (p. 80‑103). IGI Global. https://doi.org/10.4018/978-1-5225-3781-6

Montañola, S., & Souanef, K. (2012). Les études de lectorat et leurs discours : Entre outil de gestion, mythe journalistique et instrumentalisation. Sciences de la société8485, 153‑169. https://doi.org/10.4000/sds.1906

Parrish, C. (2017, juillet 24). How To Launch A Killer Email Newsletter. https://www.fastcompany.com/40425745/how-to-launch-a-killer-email-newsletter

Rubin, A. M. (2009). Uses-and-gratifications perspective on media effects. In J. Bryant & M. B. Oliver, Media effects advances in theory and research (p. 181‑200). Routledge.

Ruggiero, T. E. (2000). Uses and Gratifications Theory in the 21st Century. Mass Communication and Society3(1), 3‑37. https://doi.org/10.1207/S15327825MCS0301_02

Salles, C. (2019). Disrupting journalism from scratch : Outlining the figure of the entrepreneur–journalist in four French pure players. Nordic Journal of Media Studies1(1), 29‑46. https://doi.org/10.2478/njms-2019-0003

Strauss, B. (2020, juin 1). Out-of-work sportswriters are turning to newsletters, hoping the economics can work. Washington Post. https://www.washingtonpost.com/sports/2020/06/01/out-of-work-sportswriters-are-turning-newsletters-hoping-economics-can-work/

Vergelis, M., Shcherbakova, T., Sidorina, T., & Kulikova, T. (2020). Spam and phishing in 2019. SecureList. https://securelist.com/spam-report-2019/96527/


 

Dieser Beitrag wurde zuerst auf der französischen EJO-Seite veröffentlicht. 

 

 

 

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