Sammler, kein Jäger: Wie “bissig” ist der Presserat?

11. Februar 2022 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Seit Corona nimmt die Zahl der Beschwerden zu. Im EJO-Interview gibt Manfred Protze, langjähriges Mitglied des Deutschen Presserats, eine Einschätzung zur aktuellen Lage und Bedeutung der Organisation. Das Gespräch führte Erik Benger.

Seit 1956 fungiert der Deutsche Presserat als Kontrollinstanz der Print- und Onlinemedien in Deutschland – freiwillig und in Eigenverantwortung. Sein Wirken beruht dabei auf dem Pressekodex, der die Richtlinien für die journalistische Arbeit festlegt. Trotz der Bedeutung des Presserats erfährt dieser immer wieder Kritik, gerade der Vorwurf des „zahnlosen Tigers“ ist dabei besonders präsent.

EJO: Herr Protze, den Presserat gibt es nun schon seit mehr als 65 Jahren. Sind Sie zufrieden mit dessen bisheriger Arbeit? 

Manfred Protze: Ich denke, die Tatsache, dass ich bereits seit mehr als 35 Jahren dort mitwirke, ist eigentlich schon die Antwort auf diese Frage – und das ist weit entfernt von Selbstlob. Der Deutsche Presserat hat sich im Laufe der Jahrzehnte seiner Existenz inhaltlich sowie strukturell weiterentwickelt. Ursprünglich gab es beispielsweise nur einen Beschwerdeausschuss, jetzt haben wir drei Gremien, die effektiv den Kodex abdecken. Das hängt mit der zunehmenden Zahl an Beschwerden zusammen.

Wir haben mit den Beschwerdezahlen somit auch einen Indikator, der zeigt, dass der Bekanntheitsgrad des Presserats im Laufe der Jahre gestiegen ist. Die Leute müssen ja wissen, dass es ihn gibt, sonst wüssten sie ja nicht, an wen sie ihre Beschwerden richten müssen. Außerdem, glaube ich, hat der Presserat sich durch seine konsistente Spruchpraxis und eine kluge Form, den Kodex zu formulieren, eine breite Akzeptanz innerhalb des deutschen Prints und dem Online-Sektor geschaffen.

Manfred Protze, geboren 1946, ist Journalist und Nachrichtenredakteur. Von 1974 bis 2009 arbeitete er bei der Deutschen Presse Agentur (dpa). Seit 1987 ist er mit einem Mandat der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) Mitglied des Deutschen Presserats. Außerdem war er viele Jahre als dessen Sprecher tätig.

Die Zahl der Beschwerden, mit denen sich der Presserat befassen soll, nimmt zu. Allein 2020 sind mehr als 4.000 Beschwerden bei Ihnen eingegangen. Wie erklären Sie sich das? 

Das hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen. Einen habe ich schon genannt: Mit wachsender Bekanntheit wächst auch sicher die Zahl der Menschen, die von ihrem Beschwerderecht Gebrauch machen. Zweitens steigt die Zahl der Beschwerden pro Jahr nicht linear, sondern in Wellen. Da spielen sogenannte Themenkonjunkturen eine Rolle, wie beispielsweise die Corona-Pandemie. Die Pandemie hat eine verhältnismäßig große Zahl thematisch gebundener Beschwerden ausgelöst. Auch der aktuelle Ukraine-Konflikt schlägt sich im Beschwerdevolumen nieder.

Als dritten Faktor zähle ich, dass diese Gesamtzahlen auch sogenannte Massenbeschwerden enthalten. Das bedeutet, dass bestimmte Ereignisse, zum Beispiel die Massenpanik auf der Loveparade in Duisburg im Jahr 2010 oder ein Amoklauf in einer Schule, die Anzahl der Beschwerden massiv ansteigen lässt, weil sich eine große Zahl von Menschen mit den Vorkommnissen befasst. So kann es passieren, dass hunderte Beschwerden zu einem Thema zusammenkommen.

Die Gesellschaft ist divers, die personelle Zusammensetzung der Beschwerdeausschüsse des Presserats eher nicht. Wie könnte mehr interne Diversität erreicht werden?

Um das zu beantworten, muss die Struktur des Presserats betrachtet werden, dann findet man auch die Antwort. Denn der Presserat selbst kennt keine Vorschriften für die Zusammensetzung seiner Gremien. Die einzige Voraussetzung, um Mitglied im Presserat sein zu können, ist, dass das Mitglied von einer der vier beteiligten Trägerorganisationen, beispielsweise der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union, entsandt worden ist. Diese Trägerorganisationen sind dabei völlig autonom. Das heißt, sie treffen die Auswahl selbstständig; darauf nimmt der Presserat keinen Einfluss. Insofern müsste die Frage eher an die Träger gerichtet werden.

Der Presserat wird teilweise mit dem Vorwurf des „zahnlosen Tigers“ konfrontiert. Was denken Sie darüber?

Also Bildersprache ist immer sehr schön und wir als Journalistinnen und Journalisten benutzen sie ja auch häufig, um etwas Kompliziertes zu vereinfachen. Aber Bildersprache hat eben auch ihre Tücken. Das Bild des zahnlosen Tigers ist doppelt tückisch. Also zunächst einmal assoziiert man mit einem Tiger ein Raubtier, das auf Beutejagd geht, und allein diese Assoziation ist völlig konträr zu dem Verhalten und der Selbstdefinition des Presserats. Übertragen wir das Bild mal in eine formellere Sprache: Der Deutsche Presserat versteht sich nicht als Aufsicht über die Medien, die an diese Selbstregulierung angeschlossen sind, sondern er gibt der Öffentlichkeit im System eine maßgebliche Rolle: Sie übernimmt nämlich die Aufgabe, die in der ordentlichen Gerichtsbarkeit die Staatsanwaltschaft hat, und somit eher dem Tiger zuzuordnen wäre.

Also wird die Rolle des „Tigers“ dann von den Leser*innen übernommen? 

Genau, die Leserinnen und Leser von Print und Online teilen dem Deutschen Presserat mit, wenn sie – sozusagen – etwas „erbeutet“ haben, das aus ihrer Sicht ein Verstoß gegen den Pressekodex ist. Der Presserat tut das nicht. Dies wäre auch sehr ressourcenintensiv. Um eine Gleichbehandlung sicherzustellen, müsste quasi ein flächendeckendes Monitoring aller Pressemedien organisiert werden. Selbst die stichprobenartige Kontrolle von Inhalten  würde wahrscheinlich zu Akzeptanzproblemen führen. Nur in äußerst seltenen Fällen, wenn sich niemand beschwert und offenkundig ein Missstand vorliegt, können wir auch von uns aus Beschwerde erheben.

Die Gestalt des Tigers wurde nun geklärt, aber was sagen Sie zu dem Ausdruck „zahnlos“, also zur allgemeinen „Bissigkeit“ des Presserats?

Der Presserat hat ein Sanktionsmuster, das wir in der Beschwerdeordnung führen und dessen wichtigstes Werkzeug die Rüge ist. Das könnte man vielleicht mit einer Art von Bissigkeit vergleichen. Der Presserat setzt aber bei seinen Sanktionen eher auf eine Art erzieherischen Effekt und nicht auf Bestrafung. Betrachten sie dennoch mal die öffentliche Rüge: Die tut meines Erachtens im Einzelfall sogar mehr weh als ein nicht öffentliches Verfahren vor irgendeinem Zivilgericht.

Aber gerade die „Bild“-Zeitung wird des Öfteren vom Presserat gerügt, im Jahr 2020 waren es mehr als 20 Rügen, im vergangenen Jahr sogar mehr als 25. Man könnte anhand dieser Daten behaupten, dass diese Art der Sanktion nicht fruchtet. Was entgegnen Sie auf so eine Aussage?

Also ich würde da bezogen auf ein Medium zwischen absoluten und relativen Zahlen unterscheiden. Es ist ja bekannt, dass die „Bild“-Zeitung die bundesweit höchste Auflage hat. Damit ist die „Bild“-Zeitung auch, wenn man so will, eines der am besten beobachteten Medien. Daraus würde ich daher ableiten, dass allein durch diesen Faktor die Wahrscheinlichkeit einer Rügung steigt. Vor allem, wenn dies mit der Beobachtung einer Regionalzeitung verglichen wird, deren Publikum wesentlich kleiner ist und in deren Fall man sich eher an die Redaktion selbst wendet, bevor der Presserat konsultiert, wird. Also wir können nicht eindeutig sagen, dass die „Bild“-Zeitung der größte Sünder ist. Was aber gesagt werden kann ist, dass eigentlich alle Medien die Rüge verhindern wollen, einschließlich der „Bild“-Zeitung. Daher geben sie sich intensiv Mühe mit ihren Stellungnahmen im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens.

Ein kleiner, abschließender Ausblick: Es hat den Anschein, als würde die Gesellschaft immer polarisierter werden, zum Beispiel jetzt während der Corona-Pandemie. Ist der Presserat dafür gewappnet? 

Ja, ich sehe den Presserat dagegen gewappnet gerade mit dem allgemeinen Beschwerderecht haben wir damit doch eine gute Voraussetzung. Jeder Mensch, wirklich jeder, kann sich beim Presserat beschweren. Außerdem ist der Kodex allgemeingültig, unabhängig vom politischen Profil eines Mediums. Die ethischen Grundsätze gelten für alle gleich. Das ist die Grundlage dafür, dass ein Diskurs, auch ein scharfer Diskurs, in den Medien ausgetragen werden kann.

Herr Protze, vielen Dank für das Interview.

 

Quellen & Links

Presserat (2020). 2020: Beschwerderekord beim Presserat. https://www.presserat.de/presse-nachrichten-details/2020-beschwerderekord-beim presserat.html

Presserat (2021). Rügen des Presserats seit 1986. https://www.presserat.de/ruegen-presse-uebersicht.html

Deutschlandfunk (2020). Presserat/Wie die deutsche Presse sich selbst kontrolliert. https://www.deutschlandfunk.de/presserat-wie-die-deutsche-presse-sich-selbst kontrolliert-100.html

ifp (2022). Manfred Protze. https://journalistenschule-ifp.de/menschen/manfred-protze

Netzwerk Medienethik (2011). Manfred Protze: Minderheitendiskriminierung in den Medien  aus der Perspektive des Presserats. https://www.netzwerk-medienethik.de/jahrestagung/tagung2011/manfred-protze minderheitendiskriminierung-in-den-medien-aus-der-perspektive-des-presserats arbeitstitel/

 

Beitragsbild via pixabay.com

Foto Manfred Protze: privat

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