Orientierung im Wertedschungel

27. Januar 2016 • Qualität & Ethik • von

WerteWir brauchen Werte. Wir müssen unsere Werte vermitteln. Am besten in Werteschulungen, mindestens für Asylwerberinnen und Asylbewerber, für Migrantinnen und Migranten. Schaden kann es aber auch allen anderen nicht, von der frühpädagogischen Kindergartenpflicht bis zur lebensbegleitenden Erwachsenenbildung, in den Medien, im öffentlichen Raum – so der aktuelle Vielklang von Stimmen.

Gleichsam eine verpflichtende Ethik für alle? Fragt sich nur: Welche Werte genau, vermittelt durch wen, mit welchem Wertegerüst und an wen? Waren nicht gerade Werte jenes hohe Gut, zu dem sich freie Menschen qua kritischer Urteilsbildung durchringen, bekennen, entscheiden sollten? War nach Kants Aufklärung nicht „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“? Und ist das Aufdrängen von Werten nicht vielmehr als ungewollte Fremdbestimmung zu begreifen? Eine heikle Gratwanderung.

Kritische Urteilskraft

Keine Frage, Werte werden – nicht erst neuerdings – allerorts infrage gestellt. Jugendliche haben das immer getan, haben die Werte der Alten erst kritisiert, mitunter disqualifiziert, regelmäßig modifiziert und gelegentlich später rehabilitiert (vor allem, wenn es darum ging, den eigenen Kindern Werte zu vermitteln). Politische Werte, von rechts, der Mitte und von links, befinden sich im steten Widerstreit der politischen Kräfte, ähnlich wie unterschiedliche religiöse Wertvorstellungen. Genau solcher Auseinandersetzung bedarf die Entwicklung kritischer Urteilskraft, von ihr nähren sich individuelle wie kollektive Aufklärung und Demokratie. Sie schulen Denken, Meinungsbildung, Argumentationsfähigkeit und gesellschaftliches Lernen. Hier ist der Ruf nach Toleranz und Achtung der Andersdenkenden nicht oft genug zu wiederholen.

Meinungsfreiheit als zentrale Säule der Demokratie

Allerdings: Nicht jedes Infragestellen lässt sich als erfreuliche Entwicklung einer kritischen Urteilskraft begreifen. Ganz im Gegenteil. Immer dort, wo Grundwerte, die als Errungenschaften moderner Demokratien gelten, infrage gestellt werden, wird es kritisch. Grundrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit werden regelmäßig Opfer von terroristischen Anschlägen (Stichwort „Charlie Hebdo“) oder Zensur. Noch immer leben mehr als 85 Prozent der Menschen weltweit in Ländern, in denen Pressefreiheit nicht oder nur partiell hergestellt ist, wie uns die Weltkarte der Pressefreiheit der NGO Freedom House vor Augen führt, und rücken Bestrebungen dazu immer näher an unsere Grenzen heran (Ungarn, Polen).

Auch andere Grundwerte wie die Möglichkeit aller, sich angstfrei im öffentlichen Raum zu bewegen, werden mit Füßen getreten, wenn erst Männer Frauen umzingeln, um sie sexuell zu belästigen oder gar zu misshandeln, und dann andere Männer (und Frauen) sie am liebsten ganz aus dem öffentlichen Raum entfernen wollen, wenn sie empfehlen, die Betroffenen mögen zu ihrem eigenen Schutz besser nicht alleine auf die Straße gehen, die Nächte ebenso meiden wie den Kontakt zu Männern. Hier ist der Ruf nach Toleranz fehl am Platz, das Andersdenken als destabilisierende Kraft zu demaskieren. Was aber ist der Unterschied?

Keine Frage des Geschmacks

Das Recht der Meinungsfreiheit sichert die Möglichkeit, alle Meinungen zu äußern, ermöglicht es aber nicht, die Meinungsfreiheit selbst infrage zu stellen (im Sinne von abschaffen zu wollen). Sie ist eine zentrale Säule für Demokratien und kein beliebiger – zum Beispiel parteipolitischer, religiöser oder auch kultureller – Wert, wenngleich sie in verschiedenen Staatsformen unterschiedlich gehandhabt wird. Sie ist, sofern man in einer Demokratie lebt oder dort leben beziehungsweise um Asyl ansuchen will, keine Frage des Geschmacks oder der Gesinnung, der Nationalität oder des Religionsbekenntnisses. Die Religionsfreiheit gestattet hierzulande ja auch nur, sich nach freiem Willen einem Glauben anzuschließen, sofern die Religionsausübung weder rechtswidrig noch sittenverletzend ist, nicht aber, die Religionsfreiheit selbst infrage zu stellen.

Es wäre eine Falle, Grundfeste zu bloßen Wertfragen zu erklären und der Abschaffung preiszugeben – quasi eine Wertefalle. Werte liegen demnach auf verschiedenen Ebenen. Grundrechte und -freiheiten sind als grundlegende Prinzipien freiheitlicher Staatsordnungen etwas anderes als Meinungen zu bestimmten Themen, Werthaltungen in bestimmter Sache. Sie sind damit auch keine Frage der Kultur, sondern des politischen Systems. Wir können im kulturellen Wertedschungel über alles Mögliche debattieren und streiten, aber nicht darüber, was uns die Möglichkeit der Debatte erst sichert.

Erstveröffentlichung: derstandard.at vom 25. Januar 2016

Bildquelle: Stephanie Hofschlaeger  / pixelio.de

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