Plädoyer für den bewussten Geheimnisverrat

11. Juli 2011 • Qualität & Ethik • von

„Journalismus ist der bewusste Bruch der Geheimnisse“, erklärte Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo bei der Jahrestagung des „Netzwerks Recherche“ in Hamburg.

Journalisten müssen Licht ins Dunkel bringen, sie müssen lüften, was andere unter den Teppich kehrten, und dem Publikum die Orientierung erleichtern. Es ist wichtig, sich dies wieder bewusst zu machen.

Mittlerweile scheint schick, Journalisten sogar ihre Rolle als “vierte Gewalt“ im demokratischen Staat abzusprechen wie dies beispielsweise ein Jurist bei selbiger Tagung auf offener Bühne machte.

Das widerspricht dem Rollenrespekt. Journalisten sind keine Handlanger von Juristen, aber auch keine Beichtväter, sondern Anwälte für eine demokratische Öffentlichkeit: Sie müssen entscheiden, was so relevant ist, dass es alle wissen müssen, und was so privat ist, dass es keinen etwas angeht.

Die Hackerplattform Wikileaks brachte Menschen und Medien in Aufruhr. Gründer Julian Assange erhob einen totalitären Veröffentlichungsanspruch. Wir vernahmen – zunächst beeindruckt -, was in den Giftschränken von Militärs und Diplomaten eingeschlossen war über militärische Einsätze im Irak und in Afghanistan. Zusehends wurden wir auch irritiert: Was, wenn plötzlich alles öffentlich ist? Wenn jeder alles weiß? Von jedem?

Das wird nicht so sein, das war nur möglich, weil manche amerikanischen Einrichtungen erschreckend lückenhafte Sicherungssysteme haben und Schlüsselpersonen halfen, behauptete Mascolo. Das wird auch nicht sein, weil man mit den offengelegten Informationen erst etwas anfangen kann, wenn beispielsweise Journalisten sie als Nachrichten aufbereiten und sie erläutern. Kurzum: „Leak“-Plattformen sind ein den Journalismus letztlich bereicherndes Instrument.

Ein professioneller Journalist (die Rede ist hier nicht von Luftikussen!) entscheidet bewusst und verantwortlich, wie er mit Geheimnissen umgeht. Er steht mit seinem Namen zu dem, was er veröffentlicht, und mit seiner Haltung überdies für das, was er verschweigt. Er lüftet ein Geheimnis, wenn wichtig ist, dass alle davon erfahren, aber nicht um zu tratschen oder um einen blosszustellen.

Nicht nur professionelle Journalisten können mit Geheimnissen umgehen. Der Basler Medienprofessor Klaus Neumann-Braun verweist auf Studien, wonach die meisten Nutzer von Facebook und anderen sozialen Netzwerken genau überlegen, wem sie was erzählen und wann sie welche Funktion abschalten. Deshalb erschreckt sie weder die brandneue Facebook-Gesichtserkennung noch Googleview. Sie gehen damit um. Die Zeiten haben sich gewandelt seit 2008, als Zeit-Campus unter der Überschrift „Ausziehen 2.0“ vor Sorglosigkeit im Netz warnte. Aber: Die meisten Medien haben den Wandel noch nicht bemerkt, behauptet Neumann-Braun. Auch ein Geheimnis, das man ganz bewusst verraten sollte.

Erstveröffentlichung: Kölner Stadt-Anzeiger vom 6. Juli 2011

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