Produkthaftung auch im Journalismus?

6. Juni 2003 • Qualität & Ethik • von

Neue Zürcher Zeitung, 6. Juni 2003

Der unterschätzte Medienkritiker Hans Wagner
Mit mehr Verve als der Münchner Zeitungswissenschafter Hans Wagner hat sich in den letzten vier Jahrzehnten in Deutschland kaum ein Fachkollege kritisch mit dem Journalismus und den Medien auseinandergesetzt. Was der barocke, wortgewaltige Bayer an verstreuten Orten vortrug, ist jetzt in einem Bändchen nachzulesen, das er seinem akademischen Lehrmeister Heinz Starkulla zum 80. Geburtstag gewidmet hat.

Die Lektüre von Hans Wagners Buch lohnt auch deshalb, weil aktuelle Beispiele zur Verluderung des Journalismus in eine zeitgeschichtliche Perspektive gerückt werden – derzeit in den USA etwa der Fall des Zeitungsentenfabrikanten und Serientäters Blair; vor kurzem in der Schweiz die Affäre Borer, die sich mehr und mehr zu einem Medienskandal des Hauses Ringier auswuchs.

Falsch eingeschätzte Risiken

Wagner beschäftigt sich vor allem mit unverantwortlicher journalistischer Sensationsmache sowie mit Angsterzeugung als publizistischer Strategie, die in der Gesellschaft immer wieder eine «Hysterie der Lemminge» auslöse. Die Fälle sind zahlreich: Da ist das lokale Beispiel, als die Medienberichterstattung über angeblichen «Giftweizen» auf Kinderspielplätzen «in Ulm und um Ulm herum» eine Panik auslöste, obschon sich die inkriminierten Fundstücke später als harmlose Efeu-Samen erwiesen. Aber da sind auch nationenübergreifend die Medienberichte über Aids und BSE bis hin zum Ozonloch. Stets greifen laut Wagner dieselben Mechanismen. Was Auflagen und Einschaltquoten verspricht, werde aufgebauscht und einseitig dargestellt. Was nicht ins vorgefertigte Bild passe, bleibe unterbelichtet oder werde dem Publikum gänzlich vorenthalten. Und vor allem würden Gefahren und Risiken völlig unrealistisch eingeschätzt und dadurch hohe wirtschaftliche Schäden verursacht. Zum aktuellsten Beispiel ist mutmasslich soeben die Lungenkrankheit Sars avanciert. Im Buch ist sie noch nicht berücksichtigt.

In der Quintessenz läuft Wagners Analyse darauf hinaus, die Journalisten vermehrt für ihre Mängelprodukte haften zu lassen: «Das Recht des Bürgers auf ungiftige Dachpappe und salmonellenfreie Eier ist de facto anerkannt. Warum also nicht auch das Recht auf saubere, stimmige, geprüfte Information, wo doch letzteres Recht im Grundgesetz verankert ist – nicht anders als die Pressefreiheit.» Betrug am Zuschauer, am Zuhörer, am Leser müsse «wenigstens ebenso behandelt werden wie der Betrug eines Autohändlers an seinem Kunden», resümiert er. Dass sich Produkthaftung leichter einfordern als durchsetzen lässt, ist ihm dabei durchaus bewusst; er sieht in allen Ansätzen, sie zu verwirklichen, immerhin den Versuch, «die Qualität im Journalismus zu heben und die publizistischen Billig- und Müllprodukte aus dem Markt zu drängen».

Kritik an der Medienforschung

Wagners Streitschrift ist nicht zuletzt auch deshalb lesenswert, weil sie sich kritisch mit dem Zustand und den Entwicklungstendenzen der Medienforschung auseinandersetzt. Er wünscht sich eine Kommunikationswissenschaft, die «Aufklärung für alle» betreibt, eine «wissenschaftlich begründete Medien- und Journalismuskritik, die sich – gleichermassen positiv fördernd wie Mängel und Fehlentwicklungen rügend – mit allen Gegenwartserscheinungen und Angeboten des Journalismus auseinandersetzt».

Hinter diesem Anspruch bleibt das Fach aus Sicht des Autors vor allem deshalb zurück, weil es sich in Empirie verzettelt hat, statt seine theoretischen Grundlagen weiterzuentwickeln. Dank Hunderten von Journalistenbefragungen, die in den letzten 50 Jahren durchgeführt wurden, hätten sich «Berge von Daten» angesammelt; deren «Haltbarkeitsdatum» sei jedoch meist seit langem verfallen. Die «umfassend klärende und erklärende Sicht auf den Journalismus ist ersetzt durch Sichtweisen», die wiederum bestimmt seien «von den mehr oder weniger methodisch-modischen, aber notwendig verengten Sehschlitzen der Beobachter». Wagners Desiderat, eine «tragfähige Journalismustheorie», gebe es auch deshalb noch nicht, «weil wir keine grundlegende Journalismusgeschichte haben».

Zu wenig Resonanz

Wagners Arbeiten haben bisher weniger Resonanz gefunden, als sie verdienen. Das hat nicht nur mit feinsinnigen Unterscheidungen zu tun, die andere so nicht nachvollziehen mochten. Etwa der zwischen «Journalisten», die in der angelsächsischen Tradition eher als unparteiliche «Kommunikationsvermittler» zu dienen hätten, und «Publizisten», die Kommunikation als Beruf ausübten, um ihre jeweiligen Anliegen oder Ideologien öffentlich zu vertreten – eine Sichtweise, die den Publizisten in unmittelbare Nähe zum PR-Experten rückt, der eine ähnliche Arbeit im Auftrag Dritter erledigt. Viele Fachkollegen glaubten wohl auch, Wagner als Katholiken und Konservativen schubladisieren und sich so die geistige Auseinandersetzung sparen zu können. Vor allem waren und sind es jedoch wohl die Journalisten selbst, die jener «rücksichtslosen», aber zugleich sozial verantworteten Journalismuskritik, für die Wagner mit Leib und Seele einsteht und derentwegen er wollüstig gegen den Strich bürstet, nur äusserst zögerlich jenen medialen Resonanzboden gewähren, den sie brauchte, um in der Gesellschaft – und vor allem als Gegengift zu den Verlotterungstendenzen im Journalismus – wirksam zu werden.

 

Hans Wagner: Journalismus mit beschränkter Haftung? Gesammelte Beiträge zur Journalismus- und Medienkritik. Verlag Reinhard Fischer, München 2003. 335 S.

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