Geblendet vom Glanz der Olympischen Spiele in Peking hinterfragten nur wenige Sportjournalisten spektakuläre Weltrekorde. Dies zeigt eine aktuelle Studie zur Qualität der Olympia-Berichterstattung.
Peking, Nationalstadion, 16. August 2008: 90.000 Zuschauer blicken gespannt auf die acht Läufer des 100-Meter-Finales der Olympischen Spiele. Nach 9,69 Sekunden steht fest: Usain Bolt ist der schnellste Mann der Welt. Bereits 15 Meter vor dem Ziel breitet der Jamaikaner die Arme aus, lässt sich feiern. In einer der Kommentatorenkabinen auf der Pressetribüne überschlägt sich die Stimme eines Reporters des amerikanischen Senders NBC: “Neun Komma Sechs Neun Sekunden! Wie einfach war das denn?!”.
So spektakulär und aufregend kann Sport sein. Doch er hat auch unappetitliche Seiten: Doping-Skandale begleiten Großereignisse seit Jahren. Auch Korruptionsvorwürfe sind an der Tagesordnung.
Wie gehen Sportjournalisten damit um? Stellen sie zur richtigen Zeit die richtigen – auch unbequemen – Fragen nach den Hintergründen des “Immer-höher-schneller-weiter”? Oder geht es tatsächlich nur um die glitzernde Fassade aus Medaillen, Siegern und Verlierern? Diese Fragen stehen im Fokus einer journalistikwissenschaftlichen Studie am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig (Lehrstuhl Journalistik I) zur Qualität im Sportjournalismus.
Fokus auf Wettkampfberichten
Vermittels Inhaltsanalyse und Leitfadeninterviews wurde die Qualität der Berichterstattung aus Peking von drei britischen und drei deutschen Zeitungen untersucht.
Zentrales Ergebnis: Der Kanon aus Ereignisvorschau, Berichten über das aktuelle Geschehen, Rückblicken und Wettkampfanalysen machte je nach Zeitung zwischen 40 und 60 Prozent der Berichterstattung aus. Der Indikator “Aktuelles Wettkampfgeschehen” hatte mit Werten zwischen gut 20 und mehr als 40 Prozent immer den größten Anteil an den insgesamt 26 untersuchten Kategorien.
Hinzu kommt, dass Wettkampfberichte häufiger prominent im Blatt platziert wurden. Auf die Aufmacherthemen reduziert, erhöhte sich der Anteil der “reinen” Sportberichterstattung auf Werte zwischen 54 und 82 Prozent. “Wenn man dort ist, dann ist man doch in den sportlichen Geschehnissen drin und muss dann auch stark darüber berichten”, sagt dazu einer der für die Studie befragten Journalisten.
“Eindimensionales Bild”
Problem und zugleich Herausforderung für den Sportjournalismus ist, dass ein Sportereignis zuerst einmal losgelöst von äußeren Umständen stattfindet. “Wenn du dir einen 100-Meter-Lauf anguckst, hat der zunächst einmal keinen gesellschaftlichen Kontext”, sagt ein Journalist dazu.
Die Denkarbeit und damit auch sportjournalistische Qualität beginnt dort, wo versucht wird, nach Themen zu suchen, die die Verbindung zwischen Sport und Gesellschaft herstellen und erklären. “Das kann man kritische Berichterstattung nennen, aber es ist im Endeffekt noch nicht einmal ein Ansatz, dass man alles schlecht findet oder dass man sich gegen etwas richtet – gegen den Kommunismus beispielsweise –, sondern es ist einfach eine Möglichkeit zu zeigen, wir sind hier bei Spielen, bei denen Dinge aufeinander prallen.” Wer als Sportjournalist seinem Publikum diesen Blick hinter die Kulissen ermöglichen möchte, sollte umfassend recherchieren. Ein Qualitätsindikator der Recherche ist die Anzahl und die Herkunft der Quellen. Den Großteil der Peking-Berichterstattung machten Artikel aus, die sich auf ein oder zwei Quellen stützten. Die durchschnittliche Quellenanzahl lag bei der britischen Tageszeitung Daily Telegraph bei 1,1 Quellen; immerhin 2,1 Quellen pro Artikel ließen sich für die Frankfurter Allgemeine Zeitung ermitteln.
Alle sechs untersuchten Zeitungen bemühten sich, nicht nur die Sportler, ihre Trainer und Offizielle zu Wort kommen zu lassen: Der Anteil der erstgenannten Quellen, die nicht direkt der Sportwelt zuzuordnen waren, lag zwischen etwa 20 und 30 Prozent.
Über die Qualität der Fragen an die Quellen sagen diese Zahlen allerdings nichts aus. “Ich glaube, dass manche sich ein zu eindimensionales Bild machen von dem, was Sport ist. Die glauben, Usain Bolt läuft da 100 Meter und dann frage ich so ein bisschen hinterher, was er sagt, und das reicht dann. Das ist dann die Wahrheit”, sagt einer der befragten Sportreporter.
Thema Doping ist zu schwer für viele Leser
Doping ist im Sportjournalismus insgesamt eines der Themen, das viele Reporter nur mit der Kneifzange anfassen. Bei den Olympischen Spielen in Peking war dies nicht anders: In nur 2,2 bis 5,4 Prozent der analysierten Artikel ließ sich Doping als Hauptthema ausmachen.
Grund ist vermutlich die in vielen Redaktionen vorherrschende Meinung, Sport sei vorrangig Unterhaltung. “Schon mehrmals haben mich die Blattmacher gefragt, ob die Doping-Geschichte wirklich so wichtig ist, dass sie in die Zeitung muss. Die wissen zwar, dass es ein Thema ist, aber denken, dass sie für die Leser viel zu schwer zu verdauen wäre”, sagt einer der befragten Reporter.
Ein anderer Journalist ergänzt: “Wenn du international zu Pressekonferenzen gehst, da kommen alle zusammen, die kennen sich alle, sind alle irgendwie ähnlich und gemeinsam ist man zuständig für dieses Produkt Leichtathletik und möchte irgendwie möglichst wenig zu tun haben mit Themen wie Doping (…) Man möchte eigentlich nur ganz normal und fröhlich sich über die Frage unterhalten, wann läuft er seinen nächsten Weltrekord.”
Die Befragten warnen davor, Qualität im Sportjournalismus anhand des Umgangs mit dem Thema Doping zu definieren. “Man muss da vorsichtig sein. Zum einen, was den Pauschalverdacht angeht und zum anderen auch damit, seinen Leser nicht dadurch zu langweilen, dass man ständig auf diesen Sachen herumreitet. (…) Es ist schon ein schmaler Grat zwischen dem ‚ein Auge darauf haben‘, aber das auch nicht überzustrapazieren”, sagt ein Reporter.
Wirtschaftliche Grundkenntnisse fehlen
Eine Lupe ist nötig, um sie in der Presseberichterstattung im Rahmen der Olympischen Spiele zu finden: die Berichte über wirtschaftliche bzw. finanzielle Verflechtungen in der Welt des Sports. Ihr Anteil an der Berichterstattung lag bei den deutschen Printmedien zwischen 1,4 und 3,2 Prozent, bei der englischen Presse waren es nur zwischen 0,6 und 1,9 Prozent.
Dass das Thema “Sport und Wirtschaft” nicht allein im Fall der Olympischen Spiele in den Printmedien unterrepräsentiert ist, zeigte auch der “International Press Survey” aus dem Jahr 2005, für den der dänische Think Tank Mandag Morgen mehr als 10.000 Sportberichte aus 37 internationalen Tageszeitungen untersuchte. Gerade einmal einer von 100 Artikeln habe sich mit der Unterstützung des Sports durch öffentliche Gelder beschäftigt, nur jeder 200. Bericht gar mit den Verbindungen zwischen Sport und Privatwirtschaft.
Dass dies hinsichtlich einer qualitativ hochwertigen Sportberichterstattung problematisch erscheint, ist einigen befragten Reportern bewusst: Ein guter Sportjournalist brauche “eine gewisse Grundkenntnis wirtschaftlicher, politischer und eben auch pharmazeutischer Zusammenhänge”, sagt ein Reporter. Diese Grundkenntnisse aber seien im deutschen Sportjournalismus “überhaupt nicht” vorhanden. “Das hat natürlich zur Folge, dass viele Berichte über gerade diese Zusammenhänge von einem erbärmlichen Niveau sind.”
“Ständige Dilettanten”
Stellt der Sportjournalismus gegenwärtig eine funktionierende Kontrollinstanz dar? Vorbehaltlos bejahte nicht einer der befragten Journalisten diese Frage. Mit selbstkritischer Ironie beschreibt ein Reporter das Problem: Sportjournalisten seien “ständige Dilettanten (…) Wenn ich zur Leichtathletik-WM fahre oder zu Olympischen Spielen, dann traue ich mir zu, sowohl die wirtschaftlichen, als auch die politischen, als auch die pharmazeutischen wie auch die juristischen Hintergründe zu behandeln – mal ganz abgesehen davon, dass ich natürlich der Super-Sportexperte bin in allen 47 Sportarten, die da stattfinden”.
Ideen zur Qualitätssteigerung im Sportjournalismus sind durchaus zu finden, allein es fehlt die Umsetzung: “Auf die Idee, ein Sportressort mit einem Juristen, einem Wirtschaftswissenschaftler, einem Mediziner auszustatten, die dann sozusagen querschnittsmäßig mal darauf gucken, ob das überhaupt plausibel ist, was da passiert in den einzelnen Sportarten und Vereinen, ist überhaupt noch niemand gekommen. Ich halte das für einen Fehler.”
Todsichere Propaganda-Methode
Die Qualität im Sportjournalismus fällt somit vielerorts mangelhaft aus. “Wenn du als Diktator dein Land bewerben möchtest”, sagte einer der für die Untersuchung befragten Journalisten, “dann mach’ eine Sportveranstaltung, Olympische Spiele, möglichst groß, Sportjournalisten rein (…) Weil sie dann irgendwann sagen werden, ‚ach Mensch, das ist hier ja gar nicht so schlecht, hier steht ja ein super Stadion, hey geil, oder?’ (…) Sportjournalismus, das ist eine todsichere Methode, um ein bisschen Propaganda zu machen.”
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Wissenschaftliche Methode
Im Rahmen der Diplomarbeit “Spielverderber unerwünscht” wurde mittels eines zweidimensionalen Forschungsdesigns die Qualität der Sportberichterstattung von drei deutschen und drei britischen Tageszeitungen vergleichend analysiert. Zu den untersuchten Zeitungen zählen die Welt, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung sowie der Guardian, der Daily Telegraph und The Times.
In einem ersten Schritt wurde mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse die Olympia-Berichterstattung dieser Zeitungen über zehn Tage hinweg untersucht. Insgesamt wurden auf diese Weise mehr als 2.000 Artikel ausgewertet. Anschließend wurde mit sechs Sportjournalisten, die für die inhaltsanalytisch ausgewerteten Tageszeitungen während der Olympischen Spiele aus Peking berichteten, ein ausführliches qualitatives Leitfadeninterview geführt.
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