Medien vernachlässigen die Länder des Globalen Südens in der Berichterstattung massiv und konstant. Zu diesem Schluss gelangt eine Studie, die u.a. 5.100 Sendungen der „Tagesschau“ ausgewertet hat.
„Wie realistisch bilden die Medien die Welt ab?“ ist eine der Kernfragen der Medienwissenschaften und auch eine Frage, die sich wohl jeder Zuschauer oder Leser irgendwann einmal gestellt hat. Nicht selten weisen Medien einen blinden Fleck auf, wenn es sich um den Globalen Süden (die sog. Dritte Welt- bzw. die sog. Entwicklungs- und Schwellenländer) handelt.
Die Langzeitstudie „Vergessene Welten und blinde Flecken“ hat u.a. über 5.100 Sendungen der „20:00 Uhr-Tagesschau“ aus den Jahren 1996 und 2007-2019 sowie Berichte ausgewählter in- und ausländischer Leitmedien („Deutschlandfunk“, „Süddeutsche Zeitung“, „Der Spiegel“, „ARD-Brennpunkt“, „Anne Will“, „Hart aber Fair“, „Maischberger“, „Maybrit Illner“, „CBS Evening News“, „The Washington Post“, „Time“, „The Guardian“ und „Le Monde“) untersucht.
Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Beiträge überproportional intensiv auf den „Westen“ und die Länder des Nahen Ostens bzw. der MENA (Middle East North Africa)-Region konzentrieren (Abb. 1). Dies geschieht insbesondere zu Lasten der Staaten des Globalen Südens. Nimmt man z.B. die Bevölkerungszahlen der Länder als Grundlage, wird deutlich, dass der größte Teil des Globalen Südens stark unterrepräsentiert ist (Abb. 2). Der über 100 Mio. Einwohner zählende afrikanische Staat Äthiopien beispielsweise müsste, gemessen an der Einwohnerzahl, in etwa 860% mehr Berichten erwähnt werden, Tansania und Madagaskar sogar in 2.300 bzw. 3.265%. Einige Staaten, wie beispielsweise Sambia, Bhutan oder Lesotho, wurden in über zehn Jahren sogar kein einziges Mal erwähnt.
Die unausgewogene Berichterstattung kann teilweise höchst dramatische Formen annehmen. Auf die Hungersnot in Ostafrika und der Tschadseeregion, von der am Ende des Jahres 2017 fast 37 Mio. Menschen betroffen waren und auf die UN-Nothilfekoordinator Stephen O’Brien mit einem dramatischen Appell aufmerksam zu machen versuchte, entfielen in der Hauptausgabe der „Tagesschau“ von den insgesamt ca. 3.160 Berichten (ohne Sport), die im Jahr ausgestrahlt wurden, nur 11 Beiträge.
We stand at a critical point in history. Already at the beginning of the year we are facing the largest humanitarian crisis since the creation of the UN.
Die Katastrophe wurde nicht zum Topthema gemacht und die Beiträge hatten insgesamt eine Dauer von lediglich ca. 20 Minuten – bei einer Gesamtsendezeit von ca. 5.475 Minuten. Mit der weltweit größten jemals gemessenen Cholera-Epidemie, die sich im Jemen ausbreitete, beschäftigte sich die Tagesschau im Jahr 2017 sogar in lediglich etwa 16 Sendeminuten. Beiden Katastrophen widmete die „Tagesschau“-Hauptsendung nur äußerst geringe Anteile ihrer Gesamtsendezeit (Abb. 3).
Katastrophe ist nicht gleich Katastrophe
Staaten im Globalen Süden, insbesondere in Afrika, werden in den Nachrichten häufig nur berücksichtigt, wenn sie von massiven militärischen oder politischen Veränderungen (z.B. heftigen Terroranschlägen, Kriegen, gewaltsamen Regierungswechseln) oder außergewöhnlichen und plötzlich auftretenden Naturkatastrophen (z.B. Erdbeben) betroffen sind. Das unterschiedliche Interesse an geografischen Regionen zeigt sich am Beispiel größerer Flutkatastrophen, die sich, teilweise im Zuge von schweren Wirbelstürmen, von Juli bis Oktober 2017 ereigneten, besonders deutlich (Abb. 4).
Jedes Jahr bedrohen schwere tropische Stürme durch Niederschläge, Sturmfluten, Erdrutsche und Überschwemmungen die Karibikregion sowie den Süden der Vereinigten Staaten. Zu der sehr heftigen sog. Atlantische Hurrikansaison 2017 gehörten die tropischen Wirbelstürme „Harvey“, „Irma“ und „Maria“, die ca. 310 Menschenleben forderten und Schäden in Milliardenhöhe hinterließen. Die „Tagesschau“-Hauptsendung widmete den drei Hurrikans, die in der Karibik und den südlichen US-Bundesstaaten eine Schneise der Verwüstung hinterließen, an 19 Tagen insgesamt 37 Min. 40 Sek. Berichtzeit. Dabei konzentrierten sich die Beiträge geografisch stark auf die USA (Texas, Florida sowie Puerto Rico).
Etwa im selben Zeitraum, von Juli bis September, starben infolge schwerer Überschwemmungen in Südasien, respektive Bangladesch, Nepal, Indien und Pakistan, über 2.100 Personen. Schätzungsweise 45 Mio. Menschen, darunter 16 Mio. Kinder, waren von den heftigen Monsunregen betroffen. Trotzdem wurde diese Katastrophe lediglich in drei Sendungen erwähnt und es entfielen auf sie nur 2 Min. 30 Sek. Berichtzeit.
Ähnlich unverhältnismäßig fiel die Berichterstattung über Überschwemmungen und Erdrutsche in Sierra Leone Mitte August aus. Obwohl in dem afrikanischen Staat wie bei den drei erwähnten Hurrikans der Verlust von über 300 Menschenleben zu beklagen war, berichtete die „Tagesschau“ hierüber lediglich in zwei kurzen Beiträgen mit einer Gesamtlänge von 55 Sek. Die Überschwemmungen im Südosten Nigerias von Ende August bis Anfang September, in deren Folge über 100 Menschen starben und 100.000 Personen flüchten mussten, fand sogar gar keine Erwähnung.
Mögliche Gründe für eine unausgewogene Berichterstattung
Es drängt sich die Vermutung auf, dass sich die Berichterstattung im Allgemeinen nach der (vermeintlichen) kulturellen oder geografischen Nähe richtet. Man könnte auch vermuten, dass in einigen Medien Nachrichten eine besondere Berücksichtigung finden, die „Sensationswert“ besitzen („Terror oder Krieg ist interessanter als Hunger“).
Eine Erklärung, allerdings nicht die Ursache, für die überwiegende Konzentration der Berichte auf den sog. Westen dürfte darin liegen, dass das Korrespondentennetz hier viel dichter ausgeprägt ist als in den Staaten der sog. Dritten Welt (Abb. 5).
Während in Europa und Nordamerika Reporter i.d.R. direkt vor Ort berichten, wird z.B. bei einem heftigen Grubenunglück in Sierra Leone ein Korrespondent aus dem 5.500 km entfernten Nairobi in Kenia zugeschaltet, weil niemand verfügbar ist, der sich näher befindet (Abb. 6). Mit dem umfangreicheren Korrespondentennetz dürfte eine höhere Nachrichtendichte aus den jeweiligen Gebieten vorprogrammiert sein. Es stellt sich hier allerdings immer noch die Frage, wieso manche geografische Räume mit Reportern engmaschiger abgedeckt werden als andere?Sicherlich spielt der „mediale Diskurszirkel“ (Medien auch als Echokammer) ebenso eine wichtige Rolle: Ein Medium berichtet über etwas, weil andere (Konkurrenz-)Medien darüber berichten und trägt damit zur Diskursstabilisierung des jeweiligen Themas bei, was wiederum dazu führt, dass nun andere Medien (auch gattungsübergreifend) auf den jeweiligen Nachrichtenzug aufspringen. Diesen Zirkel mit vergleichsweise unkonventionellen Themen abseits der üblichen Diskursregionen zu durchbrechen, wird damit zunehmend schwerer.
Verantwortung der Medien
Da die journalistische Berichterstattung, die sog. Vierte Gewalt, in entscheidendem Maße zur öffentlichen Meinungsbildung beiträgt, ist die Frage nach dem Fokus des journalistischen Interesses bzw. nach der adäquaten Widergabe soziopolitischer Prozesse von größter Bedeutung. Medien bilden öffentliche Diskurse nicht nur ab, sondern generieren diese mit. Nachrichten können die Öffentlichkeit auf gesellschaftliche und politische Ereignisse bzw. Entwicklungen aufmerksam machen und dadurch auf direktem oder indirektem Wege politische Entscheidungsprozesse beeinflussen. Im umgekehrten Fall kann aber auch das Ausbleiben einer Berichterstattung erhebliche Auswirkungen haben. Aufgrund dieses umfangreichen Einflusses auf die politische Meinungsbildung fällt dem Journalismus eine ausgesprochen wichtige Funktion zu, die nicht zuletzt mit einer hohen gesellschaftlichen Verantwortung verbunden ist. Ein ausgestrahlter oder abgedruckter Bericht kann die Einstellung des Zuschauers, -hörers oder Lesers zu dem entsprechenden Thema positiv oder negativ beeinflussen.
Umgekehrt aber kann ein nicht gesendeter oder veröffentlichter Beitrag überhaupt eine Meinungsbildung verhindern, da möglicherweise erst der Bericht selbst das Bewusstsein für die Existenz des entsprechenden Themas geschaffen hätte. Relevant für die öffentliche Meinungsbildung sind daher nicht nur die ausgestrahlten Berichte, sondern ist insbesondere auch das Fehlen von Nachrichtenbeiträgen. Medien sind aufgerufen, einen Diskurszirkel zu vermeiden, der tradierte, festgefahrene Strukturen der Berichterstattung, die dem subjektiv-emotional Aufsehen erregenden und vermeintlich oder mutmaßlich kulturell oder geografisch näher Stehenden eine höhere Bedeutung zuschreibt, als dem faktisch Bedeutsamen, möglicherweise aber kulturell oder geografisch Entfernten.
Dies schließt insbesondere die, wie die Untersuchung zeigt, höchst asymmetrische Berichterstattung über Katastrophen im „Westen“ und im Globalen Süden ein. Wenn Katastrophen, die sich in der sog. Dritten Welt täglich ereignen, für alltäglich genommen werden und daher ihren Status als „berichtenswerte“ Nachrichten verlieren, ist damit ein hohes Gefahrenpotential für die Ausgewogenheit der medialen Aufmerksamkeit verbunden, die im extremsten Fall in eine mediale Blindheit gegenüber bestimmten Ländern oder Themen führen kann.
Weitere Informationen
Die Studie selbst sowie eine Zusammenfassung können auf folgender Internetseite heruntergeladen werden: www.ivr-heidelberg.de/studie
Darüber hinaus gibt es eine auf der Studie beruhende Poster-Wanderausstellung, deren Ausstellungstafeln ebenfalls auf der oben genannten Internetseite eingesehen und heruntergeladen werden können (dort findet sich auch eine Übersicht der Ausstellungsorte und -zeiten). Für Fragen und Anregungen steht Dr. Ladislaus Ludescher, der die Studie durchgeführt hat, gerne zur Verfügung: ladislaus.ludescher(at)gs.uni-heidelberg.de
Schlagwörter:Afrika, Berichterstattung, Globaler Süden, Tagesschau