„Während des Kriegs sind wir alle Journalisten“

6. Mai 2021 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Sie lassen sich nicht zum Schweigen bringen, sondern erheben ihre Stimme: Bürgerjournalisten in Syrien.

Vor zehn Jahren, im März 2011, gingen viele Syrer auf die Straße, um für ein besseres Lebens zu protestieren. Sie waren inspiriert von den Protesten des Arabischen Frühlings, die Ende 2010 in Tunesien begonnen und sich schnell in der gesamten MENA-Region verteilt hatten. Doch während in Tunesien die Regierung gestürzt wurde, reagierte das syrische Regime sehr brutal auf die Demonstrierenden. Die Situation eskalierte und wenige Wochen nach den ersten Protesten begann ein Krieg, der sich zu einer der schlimmsten humanitären Katastrophen unserer Zeit entwickelt hat.

Gleich zu Beginn des Krieges warf der syrische Diktator Bashar al-Assad ausländische Journalisten aus dem Land. Er wollte keine Zeugen von den Ereignissen in Syrien und hatte das syrische Mediensystem seit Jahren sowieso schon fest im Griff. Zur selben Zeit aber nahmen viele Syrer ihre Kameras und Handys, um die Brutalität der Geschehnisse in ihrem Land festzuhalten. Diese Bilder posteten sie dann in den sozialen Medien, um die Welt in Echtzeit über die Ereignisse in Syrien zu informieren.

Diese Art der Berichterstattung brachte mit der Zeit ein neues oppositionelles Nachrichtensystem hervor. Die Bürgerjournalisten organisierten sich innerhalb weniger Wochen und gründeten Online-Nachrichtenseiten sowie YouTube- und Facebook-Kanäle. Dort gaben sie der Opposition eine Stimme und berichteten von den Gräueltaten, die die Regierung beging und die in der Berichterstattung der traditionellen Medien nicht vorkamen. Das Internet und die sozialen Medien schafften es, die Zensur in Syrien zu besiegen.

Was den größtenteils jungen Bürgerjournalisten half, um internationale Bedeutung zu erlangen, war nicht nur die Tatsache, dass es sehr einfach ist, online zu berichten. Sie profitierten auch von dem Informationsvakuum, dass es damals gab, da die meisten professionellen Journalisten, die zu Beginn des Kriegs noch in Syrien waren, regierungsfreundlich berichteten. Zudem durften ausländische Journalisten das Land nicht betreten und waren in großer Gefahr, wenn sie es doch taten. Deshalb nutzten viele internationale Medien die syrischen Bürgerjournalisten als ihre Hauptinformationsquelle. Außerdem arbeiteten die Bürgerjournalisten als Fixer für die wenigen ausländischen Journalisten, die dennoch hin und wieder nach Syrien reisten, um von dort aus zu berichten. Laut Amnesty International hat all das die syrischen Bürgerjournalisten unverzichtbar für den weltweiten Informationsfluss gemacht:

Ohne Bürgerjournalisten, die oft unter großer Gefahr aus ihrer Nachbarschaft berichteten, hätten die Nachrichten über viele Missstände, einschließlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die Außenwelt vielleicht nie erreicht.

Trotz fehlender Ausbildung im Journalismus hätten die meisten Bürgerjournalisten relativ schnell professionelle journalistische Normen übernommen, so das Ergebnis einer Studie von Wall & el Zahed aus dem Jahr 2014. Zu Beginn habe es mehrere Fälle gegeben, in denen Bürgerjournalisten Fotos oder Videos von früheren Ereignissen recycelten oder sogar inszenierten, heißt es in der Studie. Dadurch hätten viele Bürgerjournalisten erkannt, dass es für ihre eigene Glaubwürdigkeit wichtig sei, bestimmte journalistische Normen zu befolgen und zu versuchen, ihre Informationen zu verifizieren. Einige der bürgerjournalistischen Nachrichtenkanäle hätten deshalb Mechanismen zur Faktenüberprüfung entwickelt. Von da an konnte man in den Videos der Proteste oft Bürgerjournalisten sehen, die einen handgeschriebenen Zettel mit dem Datum und dem Ort, an dem das Video aufgenommen wurde, hochhielten. Viele Bürgerjournalisten erhielten und erhalten noch immer zudem Schulungen durch internationale Organisationen.

Eine der Bürgerjournalistinnen, die aus Syrien berichteten, war Waad al-Kateab, eine junge Frau aus Aleppo. Sie war im Jahr 2009 in die Stadt gezogen, um Wirtschaft zu studieren. Aber als der Krieg begann, fing sie an, ihr Leben zu filmen – letztlich wurden daraus fünf Jahre. Außerdem berichtete sie von Syrien aus für den britischen TV-Sender „Channel 4 News“. Als Waad und ihre Familie 2016 aus Syrien fliehen mussten, hatte sie über 500 Stunden Videomaterial gefilmt. Sie speicherte das Material auf zwölf Festplatten, die sie bei ihrer Flucht in die Türkei und später nach London, wo sie und ihre Familie Zuflucht gefunden hatten, unter ihrer Kleidung versteckte. Mit diesen Videos produzierte Waad ihren Dokumentarfilm „For Sama“, der eine Liebeserklärung an ihre Tochter ist. „For Sama“ hat im vergangenen Jahr mehrere Preise gewonnen und wurde für den Dokumentarfilm-Oscar 2020 nominiert. Heute arbeitet Waad al-Kateab für „Channel 4 News“ in London.

Ein weiterer Bürgerjournalist, der auch zehn Jahre nach Beginn des Krieges noch über Syrien berichtet und versucht, auf die Situation im Land aufmerksam zu machen, ist Tammam Hazem. Er ist einer der Gründer des Aleppo Media Center, das seit 2010 unabhängige Nachrichten aus Syrien liefert. Tammam Hazem benutzt wie Waad al-Kateab ein Pseudonym, um sich und seine Familie zu schützen. Er hat Syrien im Jahr 2013 verlassen und arbeitet nun als syrischer Country Manager in der Türkei für die NGO Journalists for Human Rights.

Tammam Hazem sagt, dass die Bürgerjournalisten in und aus Syrien in den vergangenen zehn Jahren viel Erfahrung gesammelt haben:

Viele Bürgerjournalisten arbeiten heute für professionelle Medienorganisationen und einige haben sogar internationale Preise für ihre Arbeit gewonnen. Sie sind professioneller geworden und haben Verbände gegründet, um sich zu organisieren. Es gibt auch Bürgerjournalisten, die ihre Arbeit nicht weitergeführt haben. Es kommen aber immer wieder neue Bürgerjournalisten nach, die auch in den Medien arbeiten werden.

Generell, so Tammam Hazem, haben sich auch die Rahmenbedingungen sehr verändert und zu dieser Professionalisierung beigetragen:

Heutzutage gibt es viel mehr Möglichkeiten, die wir vor zehn Jahren noch nicht hatten. Die technischen Möglichkeiten haben sich verbessert und die Kameras und Telefone, die wir heute haben, sind ganz anders als die, die wir zu Beginn des Krieges hatten.

Wenn es um die Gefahren für Journalisten im Allgemeinen in Syrien geht, kann Tammam Hazem ebenfalls Veränderungen in den letzten Jahren feststellen:

Zu Beginn des Kriegs war es gefährlicher als jetzt, Informationen zu veröffentlichen. Die neuen technischen Möglichkeiten helfen auch dabei, anonym zu bleiben und sich vor Regierungstruppen oder anderen Gruppierungen, die Journalisten bedrohen, zu verstecken. Heute gibt es auch mehr Trainings und Handbücher, die Journalisten dabei helfen zu lernen, wie sie sich schützen können.

Tammam Hazem weist aber auch darauf hin, dass es für Journalisten immer noch sehr gefährlich sei, in Syrien zu arbeiten – vor allem in den Gebieten, die von Assad kontrolliert werden. Dort würden Assad-nahe Personen oft die Gruppenchats infiltrieren, die Journalisten zum Austausch von Informationen nutzen. Regierungstruppen oder andere Gruppen, die an der Macht sind, könnten so die Journalisten aufspüren – um sie zu inhaftieren oder zu töten. Hinzu komme, dass in diesen Regionen das Internet sehr schlecht und instabil sei, was es für Journalisten noch schwieriger mache, ihre Informationen zu veröffentlichen.

Aufgrund der Gefahren, die mit der Arbeit als professioneller Journalist oder Bürgerjournalist in Syriens einhergehen, gibt es viele alternative Medien, die aus dem Ausland betrieben werden. Radiosender wie Radio Hara und Radio Nasaem, die ihren Sitz in der Türkei haben, informieren Menschen auf der ganzen Welt über die Situation der Syrer innerhalb und außerhalb ihres Landes. Haiva Elmilli arbeitet als Journalistin für Radio Nasaem in Gaziantep im Süden der Türkei. Sie hat eigentlich in Aleppo Architektur studiert, bewarb sich aber, als sie 2013 in Türkei zog, für einen Job beim Radio und erhielt von Radio Hara ein 3-monatiges Einstiegstraining.

Auf die Frage, warum sie angefangen hat, als Journalistin zu arbeiten, sagt Haiva Elmilli:

Während des Kriegs sind wir alle Journalisten. Wir alle haben die Verantwortung, Informationen zu verbreiten und auf die Situation in unserem Land aufmerksam zu machen. Das ist die Aufgabe von jedem, nicht nur von professionellen Journalisten.

Sowohl Radio Hara als auch Radio Nasaem werden teilweise von internationalen Organisationen finanziert, haben aber oft trotzdem nicht genügend finanzielle Mittel. Deshalb arbeiten sie und ihre Kollegen als freie Mitarbeiter für Radioprojekte, die von Journalists for Human Rights finanziert werden, der Organisation, für die auch Tammam Hazem tätig ist.

Haiva Elmilli sagt, dass Radiosender wie der, für den sie arbeitet, Syrern in der ganzen Welt helfen könnten. Die Journalisten dieser Radiosender könnten Kontakt zu Politikern oder Organisationen aufnehmen und dabei helfen, Probleme von Menschen in Not zu lösen:

Wir wurden einmal von einem Viertel in Aleppo kontaktiert, das Probleme hatte, genügend Wasser zu bekommen. Wir haben dann einen Politiker in dieser Gegend kontaktiert und er konnte das Problem lösen. Ein anderes Mal haben wir in unserer Radiosendung über die Situation einer Schule in Idlib gesprochen. Die Schule war sehr alt und kaputt und mit unserer Berichterstattung konnten wir Spenden sammeln, um die Schule zu renovieren. Der Schulleiter hat uns danach sogar Foto von der renovierten Schule geschickt.

 

Dieser Text ist aus dem Kurs „Media and Democracy“ am Institut für Journalistik der TU Dortmund heraus entstanden. Konzipiert wurde das Seminar von Prof. Fernando Oliveira Paulino und Prof. Dr. Susanne Fengler im Rahmen des Projekts „Kommunikation und Demokratie: Medienverantwortung, öffentlich-rechtliche Medien, Internetzugang und das Recht auf Information in Deutschland und Brasilien“, unterstützt durch PROBRAL, das brasilianisch-deutsche akademische Kooperationsprogramm der Organisationen CAPES und DAAD.

 

Bildquelle: pixabay.com

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