Wie berichten Medien über Migration und Flucht?

14. Januar 2020 • Forschung aus 1. Hand, Qualität & Ethik • von

Eine Studie des European Journalism Observatory vergleicht Medien in West- und Osteuropa. Die Analyse in 17 Ländern findet blinde Flecken, nationale Alleingänge – und Meinungsvielfalt.

Auch knapp fünf Jahre nach dem Beginn der „Flüchtlingskrise“ 2015 spaltet der Streit über den Umgang mit Migranten und Flüchtlingen die Europäische Union – und er verändert die politische Landschaft der EU-Länder, wie der Aufstieg populistischer Parteien vielerorts und nicht zuletzt der nahende „Brexit“ zeigen.

Eine von der Otto Brenner Stiftung geförderte Studie des European Journalism Observatory untersucht nun erstmals für eine Vielzahl von Ländern in unterschiedlichen Regionen Europas sowie für die USA, welche Rolle die Medien in der Migrationsdebatte spielen. Fazit der Analyse: Quantität und Qualität der Berichterstattung klaffen weit auseinander – nicht nur zwischen West- und Osteuropa.  In die Analyse eingegangen sind 2.417 Artikel aus 17 Ländern aus sechs exemplarischen Untersuchungswochen zwischen August 2015 und März 2018.

Aus deutscher Sicht besonders interessant: Die Perspektive der deutschen Medien unterscheidet sich fundamental von der der anderen Medien in Europa. Nach den Daten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR ist Deutschland heute eines der fünf weltweit wichtigsten Aufnahmeländer – neben Uganda, Pakistan, der Türkei und dem Sudan. Diese Ausnahmesituation spiegelt sich auch medial wider: Mit Ausnahme eines weiteren Sonderfalls – Ungarn – wird in keinem anderen Land in der EU so intensiv über Migration und Flucht berichtet wie in Deutschland. In den sechs ausgewählten Untersuchungswochen veröffentlichten die beiden untersuchten deutschen Medien – die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung – zusammen mehr als 1.000 Beiträge. Zum Vergleich: Vor allem in vielen osteuropäischen Ländern wurden im gleichen Zeitraum weniger (oder kaum mehr) als 100 Artikel veröffentlicht. Die bereits erwähnte Ausnahme ist Ungarn, dessen Ministerpräsident Viktor Orbán sich in der Kontroverse um den Umgang mit Flüchtlingen als Gegenspieler von Angela Merkel profiliert hat – die ungarischen Medien publizierten sogar über 1.500 Artikel zum Thema Migration und Flucht. Die Sonderrolle Deutschlands zeigt sich auch im Ländervergleich: Keine andere Regierung ist international so präsent in der Berichterstattung wie die deutsche, Angela Merkel tritt häufiger als zentrale Akteurin in Erscheinung als jeder andere Politiker.

Die Studie zeigt auf, wie unterschiedlich innerhalb Europas berichtet wird. Für Deutschland – ebenso wie für Italien und Griechenland – verlaufen Migration und Flucht ins eigene Land, und viele Berichte spielen auch im eigenen Land. Im Gegensatz dazu sind dies in den anderen EU-Staaten Auslandsthemen: Es geht um Ereignisse fernab von zu Hause, jenseits der eigenen Grenzen. Auch das mag erklären, warum Deutschland mit seinem Bestreben nach einer „europäischen Lösung“ der Asylfragen weitgehend isoliert dasteht. Die französischen, britischen und ungarischen Medien betonen immerhin die internationale Verhandlungsebene in ihren Berichten. Teils geht es sogar um unterschiedliche Gruppen von Migranten: In Italien stehen Zuwanderer aus Afrika im Vordergrund, in Frankreich nehmen sie gleich viel Raum ein wie Flüchtlinge und Migranten aus dem Mittleren Osten. Zuwanderer aus dem Mittleren Osten stehen im Fokus der Medien aus den meisten anderen europäischen Ländern – sie spielen in der italienischen La Stampa in keinem einzigen Artikel eine Rolle. Für die Medien in Russland wie auch in Polen, Weißrussland und Ukraine waren zudem – von den „westlichen“ Medien im Untersuchungszeitraum wenig beachtet – Migration und Flucht aus der Ukraine ein relevantes Thema. Seit 2014 sind von dort, Schätzungen internationaler Organisationen zufolge, mehr als 2 Millionen Menschen vor den bewaffneten Konflikten geflohen.

Auch die Akzente der Berichterstattung unterscheiden sich maßgeblich. Probleme mit Migranten und Flüchtlingen sowie Proteste stehen in den osteuropäischen Medien mehr als doppelt so häufig im Blickpunkt wie in den westeuropäischen. Berichte über die Situation der Migranten und Flüchtlinge sowie über Hilfsbemühungen finden dagegen etwas häufiger den Weg in die Medien Westeuropas. Hier hat Deutschland erneut eine Sonderrolle: In keinem anderen Untersuchungsland wird so intensiv über das Thema „Unterstützung für Migranten und Flüchtlinge“ berichtet. Vor allem die Süddeutsche Zeitung sticht hier hervor und widmet beinahe jeden fünften Artikel diesem Themengebiet. Allgemein kamen in den westeuropäischen Medien deutlich mehr Akteure zu Wort, die eine positive Haltung gegenüber Migration und Flucht einnehmen. Ähnliche Muster finden sich, wenn man die – eher positive – Berichterstattung der linksliberalen Medien mit der Berichterstattung der konservativen Medien vergleicht – die tendenziell negativer ausfällt.

Ein weiteres Schlüsselergebnis der Studie lautet: Die Medien blenden Herkunft und Kontext der Migranten und Flüchtlinge weitgehend aus. Nur je 4 Prozent der untersuchten Artikel befassen sich mit Statistiken und Hintergründen sowie kulturellen und religiösen Aspekten, 3 Prozent mit wirtschaftlichen Gesichtspunkten von Migration und Flucht. Die Berichterstattung wird mit 45 Prozent von politischen Debatten dominiert. Nur ein Drittel der Artikel identifiziert klar Flüchtlinge – die unter dem Schutz internationaler Konventionen stehen – beziehungsweise Migranten, mit unterschiedlichen Motiven. Dagegen ist in zwei Dritteln der untersuchten Artikel der Status nicht klar erkennbar, oder die Begrifflichkeiten „Flüchtling“ und „Migrant“ werden vermischt. Das mag ganz unterschiedliche Gründe haben — beispielsweise Zeit- bzw. Platzgründe oder auch Unkenntnis aufseiten der Journalisten.

Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Berichterstattung wenig Aufschluss über den Kontext der Migranten und Flüchtlinge bietet. Von den 2.417 untersuchten Artikeln nennen nur 778 ein konkretes Herkunftsland; in 293 Fällen war das Syrien. Weit abgeschlagen danach folgt „Afrika“ als Kontinent mit 64 Beiträgen, vor Myanmar (30), Albanien und Ukraine (je 18) und Afghanistan (16). Unsere Studie zeigt auch, dass sich die Begrifflichkeiten wandeln: Ist in den Artikeln mit klarer Zuordnung anfangs noch meist von „Flüchtlingen“ die Rede, findet sich in den späteren Untersuchungswochen zunehmend häufig der Begriff „Migrant“. Dies könnte auch international eine entsprechende These von Michael Haller (2019) bestätigen, dass die Wortwahl der Medien im Zeitverlauf differenzierter wird. Dagegen spricht allerdings der durchgehend hohe Anteil von Artikeln, die keine klare Zuordnung zu einer der Gruppen vornehmen.

Weitgehend als Statisten der Migrationsberichterstattung erscheinen die Betroffenen selbst. Nur in einem Viertel der Berichte sind sie die zentralen Akteure, in 18 Prozent allerdings lediglich als große und anonyme Gruppe. Als Individuen oder kleine Gruppen (z.B. Familien) prägen Migranten und Flüchtlinge nur 8 Prozent der Berichte – während Bürger und zivilgesellschaftliche Akteure in den Aufnahmeländern einen Anteil von 18 Prozent haben, Regierungsakteure gar in 37 Prozent der Artikel im Mittelpunkt stehen. Auch zitiert werden Flüchtlinge und Migranten nur selten: 411 „migrantischen“ Sprechern stehen 4.267 zitierte „Nicht-Migranten“ gegenüber. Zudem haben wir im Vergleich zur Asyl- sowie zur Migrationsstatistik eine Überrepräsentation von männlichen Flüchtlingen (und auch von Kindern) in der Berichterstattung ausgemacht.

Anders machen es Medien in den USA, die als Vergleichsland (mit Blick auf Immigration aus Mexiko und Lateinamerika) ebenfalls Teil der Untersuchung waren: Als einziges Medium beschreibt die New York Times im Schnitt mehr als einen individuellen Migranten pro Artikel, mit 65 Prozent zitieren die US-Zeitungen diese Betroffenen auch häufiger als ihre europäischen Pendants, in denen nur 51 Prozent der dargestellten Flüchtlinge und Migranten auch zu Wort kommen. In Europa zeigen die spanischen Medien am ehesten ein vergleichbares Interesse an den Migranten selbst. Während sich die Washington Post auf Migration und Flucht aus anderen amerikanischen Staaten in die USA konzentriert, blickt die New York Times im Untersuchungszeitraum stärker auf Ereignisse im Ausland und auf Flüchtlinge und Migranten aus dem Mittleren Osten und Asien. Das große Interesse beider Zeitungen an der Sichtweise und Position der Betroffenen steht im Kontrast zur Migrationspolitik unter US-Präsident Trump.

Schließlich zeigt die Studie, dass stereotype Annahmen über Debatten in anderen Ländern fehl am Platz sind. Selbst in Ungarn ist die Berichterstattung beileibe nicht gleichförmig. Auf der einen Seite steht zwar die Berichterstattung der Orbán-treuen Magyar Hírlap, die in allen sechs Untersuchungswochen nicht einen einzigen Migranten oder Flüchtling zu Wort kommen lässt. Doch das unabhängige Portal index.hu hat ein deutlich anderes Profil, es gibt der Situation der Migranten und Flüchtlinge mehr Raum als der Darstellung von Problemen, und lässt zumindest einige Betroffene zu Wort kommen. Ferner haben wir für jedes Land verglichen, wie hoch der Anteil an Sprechern mit positiver versus negativer Haltung zu Migration und Flucht ist. Im Ergebnis zeigt sich, dass die beiden pro Land untersuchten Medien in fast allen Fällen ein unterschiedliches Profil aufweisen. Das gilt zum Beispiel auch für Russland: Die liberalere Kommersant präsentiert ein ausgewogeneres Meinungsspektrum als die Kreml-treue Rossiyskaya Gazeta. Im Klartext: Die nationalen Medien berichten nicht uniform, sondern bilden (im Vergleich miteinander) eine Palette von Meinungen ab.

Die Studie „Stumme Migranten, laute Politik, gespaltene Medien. Die Berichterstattung über Flucht und Migration in 17 Ländern“ steht auf der Webseite der Otto Brenner Stiftung zum Download bereit.

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