Der Journalismus am Wendepunkt? Versuch einer Vor- und Rückschau
Ob wir in zehn Jahren in vergleichbarer Weise allesamt noch süchtig am Smartphone hängen werden, lässt sich kaum prognostizieren. Persönlich kann ich mir auch eine Welt vorstellen, in der sich digitales „Detoxing“ durchsetzt, also Entgiftung und Entzug. Vielleicht wollen ja tatsächlich bald ein paar Leute mehr ihre Freiheit in der realen Welt zurückgewinnen, indem sie sich über längere Zeitstrecken hinweg von den digital-virtuellen Wirklichkeiten sehr bewusst abkoppeln, und zwar nicht nur im Urlaub, sondern auch zumindest stundenlang im Arbeitsalltag.
Springer-Chef Mathias Döpfner, einer der kreativsten Köpfe unter den deutschen Medienmanagern, sieht in diesem Kontext sogar eine Zukunft für das Papier als Trägermedium. Dann könnten weder Apple noch Google noch die Big Five Eyes, also die großen Geheimdienste mehr mitverfolgen, was wir lesen. In solch einer „neuen“ Welt wäre es wohl auch wieder denkbar, dass Journalismus, der sorgfältig auswählt, gründlich recherchiert und zielgruppengerecht Schneisen in den Informationsdschungel schlägt, bei bildungshungrigen Eliten auf Zahlungsbereitschaft trifft und Höchstpreise erzielt.
Das ist allerdings an der Jahreswende 2016 noch Zukunftsmusik am fernen Horizont. Sehr real ist dagegen europaweit und leider auch in der Schweiz die populistische Gefahr. Sie drohe nicht primär von rechtslastigen Politikern, sondern von den Medien, so warnte schon vor Jahren eindringlich der Publizist Roger de Weck, lange bevor er SRG-Generaldirektor wurde: „Der Journalismus, der diesen Namen verdient, befasst sich mit der Wirklichkeit und nähert sich der Wahrheit an. Den Medienbetrieb kümmern weder Wirklichkeit noch Wahrheit. Der Journalismus versucht, das Menschliche zu ergründen; die Medien beuten das Menschliche aus. Der Journalismus ist neugierig; die Medien sind kalt. Der Journalismus ist kritisch; die Medien sind affirmativ. Der Journalismus ist in Bewegung; die Medien bestärken den Status quo. Für den Journalismus ist Information auch eine Frage der Verantwortung, für die Medien ist sie nur noch Ware.“
Leider hat mediale Information inzwischen auch ihren Warencharakter eingebüßt, weil ja kaum noch jemand für sie zu bezahlen bereit ist. In einem wachsenden Marktsegment verkommt Journalismus zur Show, zum Geplauder, zum Empörungs-Gezeter, zum Buzzfeed-Katzen- und Kasperletheater. Wobei Buzzfeed andererseits inzwischen auch für exzellenten Journalismus im Sinne de Wecks steht, den es mit seinen werbewirksamen Katzenvideos querfinanziert.
Es ist auch schon eine Weile her, seit die Schweizer grande dame des Reportagejournalismus, Margrit Sprecher, den Journalismus verlottern sieht: „Wir sind zur Austauschware geworden. Es ist entwürdigend, wie mit den Jungen umgegangen wird. Ihre Artikel werden zusammengestrichen oder noch schlimmer, der bestellte Text erscheint nie und wird auch nie bezahlt. Das beschädigt das wichtigste, was man in unserem Beruf haben muss: Selbstvertrauen,“ schrieb sie 2009. Der berühmte amerikanische Reporter Bob Woodward hielt im selben Jahr dagegen und sagte dem „Journalismus als Institution“ ein Comeback vorher, „weil die Menschen gute Informationen brauchen, die nicht gefiltert sind und die nicht durch PR-Leute gesteuert werden.“
Bisher steht es bedauerlicherweise in dieser Partie 1:0 für Sprecher. Sicher ist: Der „mediale Kapitalismus“ wälzt „die hergebrachten Ordnungen“ weiter um, so hat das noch im alten Jahrhundert der Wiener Sozialforscher Georg Franck in seiner klugen Analyse zur Aufmerksamkeits-Ökonomie festgestellt. Im Rückblick mutet sie beinahe prophetisch an: „Wie die große Industrie einst ins Zentrum der gesellschaftlichen Macht rückte, so haben inzwischen die Massenmedien diese Stellung erobert…An den Medien führt kein Weg mehr vorbei. Längst kann sich der Einfluß, der von der Hochfinanz des medialen Kapitalismus ausgeht, an der Macht messen, die die Hochfinanz des materiellen Kapitalismus noch ausübt.“
Zwar handelt es sich bei den Plattformen und Suchmaschinen von Alphabet, dem neuen Mutterkonzern von Google, sowie von Apple, Amazon, Facebook und Microsoft nicht mehr um „Massenmedien“ im herkömmlichen Verständnis. Aber mit Menschenmassen, Massenmenschen und vor allem mit Massen von Daten, die wiederum die Werbung revolutionieren, machen die „Teenage Giants“, wie sie die Zürcher Medienforscherin Natascha Just nennt, fraglos allerbeste Geschäfte.
Wishful thinking: Vielleicht bricht ja 2016 das neue Zeitalter der Journalismus-Renaissance an, bevor die Aufmerksamkeitsökonomie gänzlich zur Desinformationsökonomie degeneriert, in der es sich für bestimmte Kreise schlichtweg rechnet, die Echokammern und Filter Bubbles der sozialen Netzwerke mit Unfug, Hassbotschaften oder Verschwörungstheorien zu fluten. Was sich gerade seit der Silvesternacht in Köln und Deutschland in den Medien abspielt, gibt allerdings wenig Hoffnung.
Erstveröffentlichung: Werbewoche Nr. 1 / 2016
Bildquelle: pixabay.com
Schlagwörter:Buzzfeed, Detoxing, Journalismus, Margrit Sprehcer, Mathias Döpfner, Natascha Just, Populismus, Roger de Weck, Schweiz, soziale Netzwerke