„Agenda Cutting – Wenn Themen von der Tagesordnung verschwinden“ – ein Blick ins Buch

24. November 2023 • Aktuelle Beiträge, Forschung aus 1. Hand, Redaktion & Ökonomie • von

„Agenda Cutting“ – schonmal gehört? Lange Zeit war das Phänomen ein blinder Fleck in der Kommunikationsforschung und Journalistik. Nun gibt es ein ganzes Buch- eine Schriftenreihe über das Verschwinden von Themen aus den Medien.

„Agenda Cutting – Wenn Themen von der Tagesordnung verschwinden“ ist 2023 erschienen und setzt sich schon zu Beginn zum Ziel, „eine theoretische Reflexion über die Bedingungen von Nachrichtenaufklärung in demokratischen Gesellschaften anzustoßen.“ Aufgeklärt werden soll darüber, dass Journalist:innen Themen auf die Agenda packen und infolgedessen andere Themen auf der Tagesordnung nach unten rutschen oder ganz in Vergessenheit geraten. Die Initiative Nachrichtenaufklärung e. V. veröffentlicht jährlich die Top Ten der vergessenen Nachrichten. Also solche Nachrichten, die beim Lesen bedeutend scheinen, von denen wir aber nur selten bis nie in den Medien lesen. 2022 stand auf der Liste z. B.: „Lücke im deutschen Gesundheitssystem: Unzählige Menschen nicht krankenversichert“ oder „Das Aussterben der Schmetterlinge“. Mehr Hintergrundinformationen zu den beiden Überschriften gibt es hier. Die Initiative weist aber auch auf andere vergessene Themen hin, viele davon in der Auslandsberichterstattung. Hektor Haarkötter war lange Jahre Journalist und heute u. a. Geschäftsführer der Initiative, gemeinsam mit seinem Kollegen Jörg-Uwe Nieland. In ihrem neuen Buch haben sie sich dem Agenda Cutting gewidmet, einem Phänomen, das erklären soll, wie die Nachrichten überhaupt vergessen werden können. Einige Gastautoren haben für die Schriftenreihe verschiedene Fälle und empirische Studien zum Phänomen aufgearbeitet. Eine kurze Zusammenfassung des Buches.

Was ist Agenda Cutting?

Agenda Cutting ist ein journalistisches Phänomen, durch das bestimmte Themen, Ereignisse oder Informationen aus der Berichterstattung oder der öffentlichen Diskussion ausgeschlossen werden. Es bezeichnet die selektive Entscheidung von Journalisten, Redaktionen oder anderen involvierten Akteuren, bestimmte Inhalte nicht in die Medienagenda aufzunehmen oder zu thematisieren. Dieses Phänomen kann verschiedene Gründe haben, wie zum Beispiel die subjektive Einschätzung der Relevanz eines Themas, politische oder wirtschaftliche Interessen, die Begrenztheit von Sende- oder Veröffentlichungszeit, das Bestreben, ein bestimmtes Narrativ zu fördern oder zu kontrollieren, oder die wohl simpelste Herleitung: Der Sachverhalt eines Themas kann schlichtweg zu kompliziert sein, so dass er aus der Themenliste einer Redaktion fliegt. Agenda Cutting kann bewusst oder unbewusst geschehen und trägt letztendlich dazu bei, dass einige Themen oder Perspektiven in den Medien und der öffentlichen Diskussion vernachlässigt oder unterrepräsentiert werden.

Der Begriff Agenda Cutting ist der inverse Begriff zum bekannten Konzept des Agenda Setting, bei dem Medien aktiv Themenschwerpunkte setzen. Bereits seit 1963 wurde Agenda Setting als Term eingeführt, erforscht und darüber aufgeklärt. Agenda Cutting fand daneben nur wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit, obwohl es logisch damit einhergeht, so die Herausgeber. Denn wo Themenschwerpunkte gesetzt werden, werden automatisch andere Nachrichten oder ganze Themenfelder ignoriert. Auch dadurch, dass bestimmte sehr populäre Nachrichten wie z. B. das “Ungeheuer von Loch Ness”, die Medienkanäle verstopfen. Diese Top-Stories bekommen von den Medien viel Aufmerksamkeit, wohingegen laut der Initiative Nachrichtenaufklärung, andere genauso gesellschaftlich relevante Themen auf der Tagesordnung nach unten rutschen.

Das Buch „Agenda Cutting- Wenn Themen von der Tagesordnung verschwinden“ befasst sich erstmalig in diesem Ausmaß mit dem Phänomen und den unterschiedlichsten dahintersteckenden Mechanismen.

Agenda Cutting kritisiert die Nachrichtenselektion

Im Buch wird Agenda Cutting auch auf die Nachrichtenwerttheorie von Galtung und Ruge aus dem Jahre 1965 bezogen. Die Theorie beschreibt bestimmte Nachrichtenwerte, nach denen Nachrichten in ihrer Relevanz bewertet werden könnten. Die neue Veröffentlichung zu Agenda Cutting kritisiert die Theorie und konstatiert, dass bereits durch dessen Vorgehensweise bestimmte Ereignisse abgewertet und andere aufgewertet werden. Das führe zu einer ständigen Bewertung von Nachrichten. Zu Nachrichtenwerten gehört beispielsweise lokale Nähe oder Prominenz. Ersterer kann erklären, weshalb bestimmte internationale Konflikte wie z. B. die Kubakrise nicht dieselbe Aufmerksamkeit in den deutschen Medien bekamen wie andere Themen. Die Medien haben also einen sehr selektiven Charakter und das hat Auswirkungen auf das Themenspektrum. Die Autoren unterstreichen, dass dies sich letztendlich auch negativ  auf die öffentliche Wahrnehmung und Meinungsbildung auswirken.

Als mögliche negative Auswirkungen von Agenda Cutting werden im Buch u. a. diese aufgezählt:

  • Verzerrung oder Unterrepräsentation bestimmter Ereignisse
  • Ungleichgewicht in der Nachrichtenverteilung: Das Buch weist darauf hin, dass die Medien tendenziell überentwickelte Länder oder bestimmte Themen bevorzugen und dabei weniger entwickelte Regionen oder relevante Ereignisse vernachlässigen. Dies führe zu einer unausgewogenen Darstellung der Weltgeschehnisse.

Forschung in diesem Bereich argumentiert für eine proportionalere Berichterstattung, die dem realen Verhältnis von Ereignissen und Regionen entspricht.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Rita Colistra hat ab 2008 das Konzept des Agenda Cutting erstmalig ausführlich erforscht und hat als Teil ihrer Doktorarbeit Fernsehjournalisten und -journalistinnen befragt, um die größten Einflussfaktoren für Agenda Cutting zu bestimmen. In ihrer Forschung aus dem Jahr 2008 hat sie drei unterschiedliche Formen von Agenda Cutting herausgestellt:

  1. Indem man einen Punkt auf der Tagesordnung nach unten verschiebt (ihn vergräbt).
  2. Indem es von der Tagesordnung gestrichen wird, sobald es einmal dort war.
  3. Durch völliges Ignorieren, indem es gar nicht erst auf die Tagesordnung gesetzt wird.

Welche Faktoren führen zum Agenda Cutting?

Weshalb wird Afrika in den deutschen Medien komplett vernachlässigt? Was steckt hinter der fehlenden Berichterstattung über Belarus und was hat das zur Folge? Im Buch gibt es einige Beiträge zu den unterschiedlichsten Szenarien. Alle vereint, dass sie nicht wirklich in den Medien vorkommen. Bestimmte Prozesse in Redaktionen, der Politik und anderen Feldern führen dazu. Hektor Haarkötter fasst in einem Vortrag im Rahmen des b° future jobs, einem Event für Nachwuchsjournalisten, einige der Einflussfaktoren für Agenda Cutting zusammen. Welche Prozesse führen also zufällig oder beabsichtigt also dazu, dass sie nicht in den Medien vorkommen? Diese führt Haarkötter auf und hält sich dabei an die Ausführungen des deutschen Soziologen Jürgen Gerhards aus dem Jahre 1991.

  • Prominente Personen werden in den Medien überrepräsentiert. Das bedeutet in der Praxis, dass Geschichten, bei denen Prominenz anwesend ist, viel eher in die Medien gelangen.
  • Nationale Tatsachen rangieren vor internationalen. Es gibt folglich ganze Kontinente, wie Afrika, die nahezu nicht in den deutschen Medien vorkommen. Außer es gibt z. B. eine große Naturkatastrophe, schiebt Haarkötter ein. An Orten, die zu weit weg sind, fehlen außerdem oft deutsche Korrespondenten.
  • Der unmittelbare Rezipientenbezug wird präferiert.
  • Kontinuierlichen Prozessen wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn ein Krieg ausbricht, berichten die Medien, wenn er danach lange anhält, verschwindet er irgendwann aus den Medien. Über alles Gleichbleibende wird irgendwann nicht mehr berichtet.
  • Stereotype Erwartungen werden eher bestätigt. Journalist:innen veröffentlichen also eher Themen, von denen sie denken, dass die Zuschauenden sie bereits kennen.
  • Gewaltsame, kontroverse, erfolgreiche oder wertverletzende Tatsachen werden überbetont.
  • Komplexe Zusammenhänge werden seltener oder nur in personalisierter und emotionalisierter Form thematisiert. Komplizierte Themen fallen also schnell weg, wenn sie nicht durch ein personalisiertes Beispiel simpel erklärt werden können.

Im Buch werden noch einige andere mögliche Gründe für Agenda Cutting aufgezählt beispielsweise PR-Einflüsse oder wirtschaftliche Zwänge der Redaktionen. Auch Vorlieben der Redaktion oder personelle Verteilungen, also eine bestimmte politische Einstellung, können dazu führen, dass Themen in bestimmten Medien vernachlässigt werden. Ebenso hat die Rolle des Publikums einen Einfluss auf Agenda Cutting.

Was kann man gegen Agenda Cutting tun?  

Haarkötter erzählt von der heutigen Journalistenausbildung, in der oftmals die Nachrichtenwerttheorie gelehrt wird, statt gerade diese Werte in der Nachrichtenselektion zu vermeiden, um eine größere Nachrichtenvielfalt zu erschaffen. Die Initiative Nachrichtenaufklärung e. V. stößt durch das Buch an, die Nachrichtenselektion in Redaktionen zu reflektieren. Die Beschäftigung mit Agenda Cutting kann also bereits lehrreich für Journalist:innen sein. Es werden aber auch noch andere Lösungsvorschläge präsentiert, um dem Publikum authentische und vielfältige Informationen zu bieten. Eine dieser Maßnahmen betrifft die interne Überwachung in Redaktionen durch die Einführung eines Issue-Managements, das darauf abzielt, Vielfalt und Diversität in den Nachrichten sicherzustellen. Ebenso wird die Idee diskutiert, die Arbeit von Nachrichten-NGOs zu berücksichtigen, um vernachlässigte Geschichten als exklusive Storys zu betrachten.

Zusätzlich werden gesetzliche Maßnahmen vorgeschlagen, darunter die Einführung effektiver gesetzlicher Schutzmaßnahmen für Whistleblower sowie mögliche Vielfaltsgebote in lizenzierten Medien, um eine breitere Nachrichtenvielfalt sicherzustellen. Des Weiteren wird die Idee einer Informations-Allmende erörtert, ähnlich dem Konzept der Wissens-Allmende, das darauf abzielt, einen Journalismus zu fördern, der gesellschaftlich relevante Informationen als gemeinschaftliches Gut bereitstellt. Dies könnte durch staatliche Beihilfen für Medienhäuser und die Umwandlung in Non-Profit-Organisationen erreicht werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Förderung von Nachrichtenkompetenz als wesentlicher Bestandteil der staatsbürgerlichen Bildung. Es wird empfohlen, sechs idealtypische Fähigkeiten zu entwickeln, darunter Informationsverarbeitung, das Erkennen von vertrauenswürdigen Quellen und Propaganda sowie das Bewusstsein über die demokratische Bedeutung von Journalismus und Meinungsfreiheit.

Mehr Hintergründe zum Thema und den Ausführungen finden Sie in „Agenda Cutting – Wenn Themen von der Tagesordnung verschwinden“.

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