Dass es auch Medienexperten nicht viel anders geht, lehrt uns einmal mehr das Internet. Dort kursieren seit Tagen Schätzungen, welcher Preis sich denn mutmasslich noch für eine grosse Tageszeitung erzielen lässt, die im Land eine tragende Rolle spielt: der Boston Globe, für den die New York Times Co. vor wenigen Jahren noch stolze 1,1 Milliarden Dollar hingeblättert hat, steht zum Verkauf – und die Finanzanalysten streiten sich, ob das Zeitungs-Flaggschiff des amerikanischen Nordostens noch zumindest 100 Millionen Dollar wert sein könnte, oder ob es gar zu einem symbolischen Betrag von nur einem Dollar über den Tisch gehen könnte. Das 137 Jahre alte Blatt betreibt eine der meistgenutzten Nachrichtenwebsites, und es versorgt eine reiche, vom Bildungsbürgertum geprägte Region, zu deren Leuchttürmen die Harvard University ebenso wie das MIT gehören, mit Nachrichten. Trotzdem geht es der Zeitung so schlecht, dass das Management mit den Gewerkschaften zäh um Gehaltskürzungen von 25 Prozent ringt. Ein Ende der Krise ist nicht absehbar: Die Beratungsfirma PriceWaterhouseCoopers hat soeben prognostiziert, die amerikanischen Zeitungen müssten sich darauf einrichten, dass sie in den nächsten drei Jahren noch einmal ein knappes Drittel ihrer Werbeeinkünfte verlieren würden.
Derweil lauern bereits die Aasgeier im Gebüsch. Zu ihnen zählen auch manche Medienforscher. Sie sind neugierig, was passieren wird, wenn es im ersten grossen Agglomerationsraum der USA keine grosse Tageszeitung mehr gibt. Es wird dann jedenfalls eine wichtige Instanz fehlen, die den spendierfreudigen und – wie wir in England gerade mit ansehen müssen – oftmals auch leicht korrumpierbaren Mächtigen auf die Finger sieht. Vermutlich ist das, was sich in Boston abspielt, auch für Europas Zukunft genauso „systemrelevant“ wie die Sanierung des Bankensektors.
Schlagwörter:Internet, Medienforschung, Printmedien, Zeitungskrise