Die Tragik der virtuellen Allmende

12. August 2010 • Digitales, Medienökonomie • von

Im Internet gibt es keine Grenzen. Informationen reisen unabhängig von Staatsgrenzen, nationaler Zugehörigkeit und Platzmangel durchs Netz.

So haben wir uns die Wirklichkeit vorgestellt hinter dem Slogan „information wants to be free“, der die Jahre der Aufbruchsstimmung im Netz geprägt hat. Das passende ökonomische Verwertungsmodell ist der Long Tail, der selbst dem ausgefallensten digitalen Produkt noch Vermarktung und Verkauf ermöglicht,
braucht es doch keinen Platz im Regal, sondern nur ein paar Megabyte Speicherkapazität, die im digitalen Zeitalter unendlich zur Verfügung steht. „Space is no escape“, so haben Bevölkerungswissenschaftler vor Jahrzehnten die Grenzen unserer finiten Welt angemahnt. „There is no escape from space“ müssten wir heute formulieren. Niemand entkommt dem unendlichen Raum digitaler Vermehrung und Speicherung. Die Datenvermehrung bedroht unsere Denkwelten. Nicht Platzmangel ist das Problem des Netzes, sondern seine räumliche Unbegrenztheit.

Stellen wir uns das Web als eine Gemeindewiese vor, einen rasenbegrünten begrenzten Raum unter blauem Himmel. Auf diesem Platz tummelten wir uns, die Netznutzer dieser Welt, hunderte Millionen Menschen, die kommen und gehen. Und dann stellen wir uns vor, auch unsere Informationen brächten wir in materieller Form auf diesem Platz unter die Menschen. Milliarden von Papieren mit Nachrichten flögen durch die Luft und verdunkelten den Himmel, ein ohrenbetäubender Krach aus Musikfiles und Youtube Videos dröhnte über den Platz, vom Rasen wäre ob der unzähligen in den Boden gestampften Werbeplakate längst nichts mehr zu sehen und von allen Seiten zerrten Menschen an uns, um uns eine Freundschaftsanfrage in die Hand zu drücken. Würde man einen solchen Platz betreten wollen? Wohl kaum. Würde man ihn überleben? Unsicher.

So ungefähr könnte sich William Forster Lloyd das Internet gedacht haben, hätte er sich eine Vorstellung davon machen können und hätte er sich nicht mit Bevölkerungsentwicklung, sondern mit Informationswachstum beschäftigt. Der politische Ökonom Lloyd hat in seinen Überlegungen 1833 zum ersten Mal eine Theorie zum sorglosen Umgang der Menschen mit Gemeingütern beschrieben. Seine Idee ist später zur „Tragik der Allmende“ weiter entwickelt worden, unter anderem in einem vielbeachteten Science Artikel aus dem Jahr 1968 von Garret Hardin.

Hardin wendet sich in seinem Beitrag radikal die „unsichtbaren Hand“ Adam Smiths. Sie ist als ökonomisches Mantra in die Wirtschaftsgeschichte eingegangen mit der Grundannahme: Jeder, der danach trachtet, den eigenen Nutzen zu vergrößern, trägt auch zur Mehrung des Allgemeinwohls bei. Hardin widerlegt Smith am Beispiel des Hirten, der ein Vieh auf der Gemeindeweide grasen lässt. Kann ein Hirte ein weiteres Rind auf die Weide bringen, hat er einen Vorteil von plus 1 für sich selbst. Der Schaden, den die Überweidung anrichtet, verteilt sich dagegen auf alle Weidennutzer. Er beträgt also für jeden Hirten nur einen Bruchteil von minus 1. Leider rechnen aber alle Hirten gleich und schicken zusätzliche Rinder auf die Wiese. Und so ist nach kurzer Zeit von der Weide nichts übrig als ein brauner steiniger Acker und die Kühe werden dünner und dünner. Hardins radikale Schlussfolgerung: die Freiheit der Allmende ruiniert alle.

Zum Glück wächst im Netz kein Gras, es weiden keine Kühe und niemand verhungert, wenn er die Informationen nicht findet, die er sucht. Vielleicht bedarf es nur einer perspektivischen Anpassung an die Besonderheiten des Web um zu verstehen, warum hier dennoch ähnliche Gefahren lauern. Wenn die Entwicklung der Datenfluten im Netz weiter geht wie bisher, wird auch das Internet seine eigene Tragik erfahren – als virtuelle Allmende.

Es gibt viele Beispiele für die Übernutzung des Netzes mit sinnlosen Daten. Wer einmal versucht hat, dauerhaft einen kostenlosen Email Account eines Providers wie Web.de, gmx.de oder Hotmail.com zu nutzen, der weiß dass die Spam- und Werbeflut einen irgendwann zur Verzweiflung und zu anderen Anbietern treibt. Seit kurzem wird das gesamte Web von einer Like-Welle überschwemmt, mit der die Facebook-Standards im Ausdruck digitaler Sympathie auf alles übertragen werden, was irgendwie mögbar ist. Dabei geht es aber nicht mehr um relevante Informationen, an der das Individuum seine Freunde und Peer Group teilhaben lassen will. Es geht um eine endlose Marketingkette, entlang derer wir Netznutzer als Produkte auf einer globalen Plattform für Product Placement weitergereicht werden. Auch bei Facebook finde ich oft wichtige Informationen, muss mich dabei aber immer häufiger durch Unmengen von „Statusmeldungen“ quälen, die mir anzeigen, dass irgendjemand gerade wieder ein pinkes Babykalb auf seiner Farm gefunden hat (für Facebook Unkundige: das virtuelle Spiel Farmville ist eine der erfolgreichsten Anwendungen auf der Plattform). Schließlich werden Facebook, aber auch die Mikroblogging-Plattform Twitter inzwischen durch Datenfluten überschwemmt, die von Institutionen und Unternehmen zu Werbezwecken ausgesandt werden. Twitter will bald „promoted Tweets“ anbieten, bei denen Werbetreibende gegen Bezahlung ihre Begriffe in die Liste der populärsten Suchworte platzieren können. Es wird dann zuhauf solche Mitteilungen geeben, wie sie zum Beispiel die Sparkasse Hanau kürzlich aussandte: „Günther #Jauch wechselt von RTL zur ARD. Wechseln Sie zur Sparkasse Hanau. Unsere Girokonten und Leistungen überzeugen.“ Diese Kommunikationsstrategie leider nicht.

Schon Garret Hardin wendet in seiner „Tragedy of the commons“ die Problematik der überweideten Wiese auf immaterielle Güter an und entwirft das Szenario einer Unterhaltungsallmende, in der öffentlicher Raum durch Musik und Werbung verseucht und irgendwann der Nutzung unzugänglich wird. Im Internet hat dies längst begonnen: Weil alle inzwischen alles ins Netz bringen, egal warum, egal für wen, egal wozu, wandelt sich das so vielversprechende, offene und demokratische Netz, wie es in den Entwürfen der Digitalaktivisten erster Generation aufscheint, zu einer billigen Plattform für individuelle und institutionelle Marketingplattitüden. Das Internet wird zum Gemeinplatz. Wo immer öfter digitale Datenstampeden durch Teile des Netzes gejagt werden und alles niedertrampeln, wächst bald kein Gras mehr. Damit schrumpft der Nährboden für echte Basisinitiativen, demokratische Informationskultur und Zivilkommunikation – für all das also, das Digitalaktivisten als Grassroot-Themen zurecht schätzen und schützen möchten.

Es gibt sie also – die Tragik der digitalen Allmende. Und zwar jenseits aller Beteuerungen der demokratisierenden und egalisierenden Wirkkraft des Netzes und seiner unbegrenzten Daten- und Kommunikationsräume. Nicht Futtermitteln werden knapp, wenn sich allzu viele im virtuellen Raum tummeln und nach eigenem Gutdünken und zu eigenem Vorteil drauf los senden. Im Gegenteil: Wir steuern als vernetzte Gesellschaft auf einen Zustand digitaler Adipositas zu. Es ist der Denkraum, den wir benötigen, um das richtige und nährreiche digitale Futter zu verarbeiten, der knapper und knapper wird.

Für den Tausch der Informationen in der virtuellen Welt gibt es eine zentrale Währung, die durch diesen Prozess inflationiert und damit entwertet wird: Aufmerksamkeit. Das Netz lebt nicht aus sich selbst heraus. Es lebt aus denen, die in und mit ihm kommunizieren – seinen Nutzern und Produzenten. Zu ihnen verlagert sich der begrenzte Raum des Wahrnehmens und Verarbeitens, der nicht beliebig erweitert werden kann – die virtuelle Weide. Es gibt keine unbegrenzten Quellen der Aufmerksamkeit. Der Mensch ist nicht multitaskingfähig. Aber im Netz tun wir so, als sei alles anders. In unser aller Köpfe liegt der Platz, auf dem sich längst zu viele am grünen Gras der grenzenlosen Internetkommunikation weiden, unsere Synapsen mit Datenstampeden niedertrampeln und dabei immer mehr kognitiv kahle Stellen hinterlassen.

Die traditionelle Ökonomie hat lange darauf gesetzt, die Tragödie der Allmende zu bekämpfen, indem das offene Gemeingut zum öffentlich geregelten Gut wird. Ressourcen werden durch meist staatlich erlassene Verfügungsbeschränkungen  reguliert. Das kennen wir zum Beispiel in Form von Fischfangquoten oder auch im Emissionsrechtehandel. Muss also der Zugang zum Netz reguliert werden? Müssen Datenmengen festgesetzt werden, in deren Rahmen ein jeder das Netz pro Jahr nutzen darf? Bewahre! Staatliche Regulierung könnte vielleicht das Problem der Aufmerksamkeitsallmende quantitativ lösen, aber mit Mitteln, die das offene Netz und seine Kommunikation in gleicher Form schädigen, wie es auch die Übernutzung von Gemeingütern vermag.

Die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat in ihrer Forschung die Problematik der Allmende institutionenökonomisch betrachtet und kommt zu dem Ergebnis, dass oft lokale, sich selbst organisierende Institutionen am besten in der Lage sind, die Nutzung von Gemeingütern zu organisieren und zu kontrollieren. Das geschieht dann auf Basis von Selbstverpflichtungen, nicht aber durch übergeordnete staatliche Regulierung. Für das Internet als digitale Allmende ist das ein guter Ansatzpunkt, der all diejenigen auf den Plan rufen müsste, die am Netz als Ort der offenen, demokratischen und egalitären Zivilkommunikation interessiert sind. Web Communities können sich selbst Regeln geben, wie ihre Kommunikation aussehen und was sie enthalten soll. Sie können sich gegen Spam und Informationsmüll zur Wehr setzen und diejenigen ausschließen, die ihre selbstgesetzten Regeln ignorieren. Sie können auch dafür einsetzen, Informationen teurer zu machen, damit das Wichtige vom Datenmüll getrennt werden kann. Das Beispiel Facebook zeigt in Ansätzen, wie das funktioniert: Nutzerproteste und -aktionen gegen die laxe Datenschutzpolicy des Unternehmens haben inzwischen erste Wirkung gezeigt.

Gelingt es nicht, mehr selbstorganisierte Nutzungsformen zu entwickeln, wird die digitale Allmende zu einem schönen Traum demokratisierter und selbstorganisierter Kommunikation werden, geträumt im Rückblick auf eine vergebene Chance. Dann wird der – einst positiv gemeinte – Satz  des Netzgurus Howard Rheingold wahr, er werde von seiner virtuellen Community „kolonialisiert“. Nur dass es nicht mehr die eigene Community ist, sonder ein fremder, kommerzieller Gatekeeper, der längst bereit steht.

Es werden dann die Gärtner der hübsch umzäunten und streng kuratierten Schrebergärtchen im Netz sein, wie sie Apple, Amazon oder Netflix anlegen, die das Internet dominieren. Sie werden uns Nutzer mit den Folgen der Tragödie der Allmende aus dem einst offenen und freien Netz in ein virtuelles Disneyland locken. Dort ist alles grün, hübsch, sauber, massentauglich und teuer. Wir können aufatmen und uns den vorselektierten und irritationsfreien Informationen hingeben, für die wir ja ordentlich bezahlt haben. Das virtuelle Brachland, dass unsere Gärtchen umgibt, wird sich durch Sichtschutz unseres Blicks entziehen, ebenso wie die dürren Kühe, die einsam und ziellos durch die verbliebenen Furchen unserer Netzerinnerung pflügen. Wir streicheln derweil gerührt ein pinkes Babykalb, das seinen Rücken an der Innenseite unseres Gartenzauns reibt.

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