Eine Idee zu früh

24. Juli 2009 • Medienökonomie • von

Erstveröffentlichung: Message 3

 Mit umstrittenen Konzepten wollte Mark Willes Mitte der 90er die LA Times retten. Er scheiterte an engstirnigen Gegnern. Wäre seine Strategie verfolgt worden – die Krise von heute wäre nicht so gross.

Für seine Ideen war vor zehn Jahren die Zeit (noch) nicht reif: Mark Willes. Foto: Brad Slade

Vieles hat sich unter den Wettbewerbsbedingungen des Internets im Vergleich zu den „guten, alten Zeiten“, als die meisten Zeitungen ihre lokalen oder regionalen Monopole hatten, radikal verändert. Vor allem sind „die Kosten sehr viel höher, Vorlieben und Wünsche der Publika nicht zur Kenntnis zu nehmen,“ so jedenfalls sieht es der amerikanische Experte für Online-Journalismus, Pablo Boczkowski. Auf gut Deutsch: Journalisten können nicht mehr in einem Schonraum an den Interessen ihrer Publika vorbei texten und senden, ohne abgestraft zu werden.

Damit wird Marktforschung wichtig. Ähnlich wie in Europa, hielten sie auch über lange Zeit hinweg weder die amerikanischen Verleger noch die Journalisten für nötig. Die Verleger nicht, weil sie ja meist von marktbeherrschenden Stellungen aus operieren konnten – wer Monopolist oder Oligopolist ist, interessiert sich wenig für seine Kunden. Die Journalisten nicht, weil sie auf ihr Bauchgefühl vertrauten („Der Leser will das so“), aber auch, weil es festgefügte Vorurteile gegenüber der Markt- und Kommunikationsforschung gab und gibt.

Zudem ist es auch in den USA Teil des Selbstverständnisses eines „gestandenen“ Redakteurs, dass zur „Gegenseite“ gehört, wer in PR, Marketing und Werbung tätig ist: das sind diejenigen, die Journalismus instrumentalisieren und manipulieren wollen – und schon deshalb ist ihnen zu misstrauen.

Dass Werbe-, PR- und Marketingfachleute auch für Medienhäuser, zumal für Zeitungsverlage, nützlich, ja unentbehrlich sein könnten, um im 21. Jahrhundert die eigenen Marken zu führen und um bei den Publika dafür zu werben, Journalismus finanziell abzusichern – solche Einsichten sind weiterhin schwer zu vermitteln.

Von Cereal-Hersteller zum Verlagsboss

Einer, der es frühzeitig versucht hat und gescheitert ist, war Mark Willes. Als Branchenfremder wurde er zum Vorstandsvorsitzenden des Times Mirror-Medienimperiums gekürt. Vom Cereal-Hersteller General Mills kommend, übernahm er 1995 den Stab, als sich die Dinge bereits krisenhaft zugespitzt hatten: Die Auflage des Konzern-Flaggschiffs, der Los Angeles Times war in den vier Jahren zuvor bereits um 19 Prozent auf 1,012 Mio gefallen – und drohte unter die magische Millionengrenze abzusacken. Das Anzeigengeschäft, aus dem US-Zeitungen 80 bis 85 Prozent ihres Umsatzes erzielten, war ebenfalls flau. Südkalifornien war mit seiner Rüstungsindustrie nach dem Ende des Kalten Kriegs in eine heftige Rezession geraten, und Konzentrationsprozesse im Einzelhandel ließen das Inserate-Aufkommen zusätzlich schrumpfen.

Redaktionelles besser vermarkten

Die Kulturrevolution nach Mark Willes‘ Amtsantritt bestand darin, daß er die Marktforschung intensivierte und zugleich die Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Anzeigenabteilung forcierte. Einzelnen Ressorts wurden Manager zugeordnet, die sich bereichsspezifisch um Anzeigengeschäft und Marketing kümmern sollten. Ohne ins redaktionelle Tagesgeschäft einzugreifen, sollten sie auch die redaktionelle Leistung besser vermarkten helfen.

Als Modellfall hierfür galt die Wirtschaftsredaktion. Sie hatte als erste bewiesen, daß das neue Konzept funktioniert: In Zusammenarbeit zwischen dem Ressortchef und dem Marketing-Star des Blatts, der 32 Jahre jungen Kelly Ann Sole, war es gelungen, neue Leser wie auch 40 Prozent mehr Inserate für den Dienstags-Wirtschaftsteil zu gewinnen, der jetzt „Wall Street California“ hiess und sich stärker als bisher um Geldanlage drehte. Willes, sonst als Sparkommissar verrufen, genehmigte der Wirtschaftsredaktion elf neue Redakteursstellen.

Als weiterer revolutionärer Akt schwebte Willes für jedes Ressort und jede Ausgabe des Blattes eine Art Gewinn- und Verlustrechnung vor – wobei er klug genug war, zu wissen, daß nicht jeder Bereich profitabel sein kann. Andererseits wollte er aber verfolgen können, wie sich Leserakzeptanz und Anzeigenaufkommen für die jeweiligen Bünde und Lokalausgaben entwickeln. Wurde zuvor die ganze Zeitung als Einheit betrachtet, so waren es eben jetzt die Regionalausgaben bzw. Ressorts, die als profit centers geführt werden sollten.

Die Börse jubelte, die Medien ätzten

Das Echo war heftig und zwiespältig: An der Wall Street gab es begeisterte Reaktionen. In den Medien lenkte Willes dagegen mehr Spott und Häme auf sich als irgendein anderer Verlagsmanager Amerikas. Für schrille Obertöne im Chor der Kritiker sorgte nicht zuletzt die Crème de la crème des amerikanischen Journalismus: Von Ben Bradlee und Max Frankel, den beiden Ex-Chefredakteuren der Washington Post und der New York Times, bis hin zum altlinken Medienkritiker Ben Bagdikian fielen die Celebrities des amerikanischen Journalismus über Willes her wie die Löwen über einen Eindringling in ihr Revier.

Ihre Befürchtungen: Journalismus werde sich künftig nur noch nach Umfrageergebnissen ausrichten oder, schlimmer noch, den Direktiven der Anzeigenabteilung ausgeliefert. Die sakrosankte „Chinesische Mauer“ würde löcherig, welche Redaktion und Anzeigenabteilung bei seriösen Zeitungen voneinander trennt und die letztlich garantieren soll, daß sich der Journalismus nicht Inserentenwünschen beugt.

Ganz unschuldig war Willes an dem, was im Rückblick eher ein Mißverständnis zu sein scheint, allerdings nicht. Er provozierte gerne. Die Mauer wollte er „zur Not mit einer Bazooka in die Luft sprengen“ – so sehr vertraute er darauf, daß es solcher institutionellen Vorkehrungen nicht bedarf und stattdessen allein die Integrität der Mitarbeiter zählt. Denjenigen, die sich ihm in den Weg stellten, empfahl er, „lieber den Job zu wechseln und bei der Konkurrenz die nötigen Innovationen zu blockieren“, so der Columbia Journalism Review.

Willes, der “Cereal Killer”

Immerhin hatte Willes etwas, woran es vielen US-Zeitungsverlegern heute noch immer mangelt: eine Strategie. Der Tageszeitung müsse es gelingen, mit einem viel stärker aufgefächerten Informationsangebot Nischen zu besetzen – in Konkurrenz zu den bereits boomenden Special interest-Zeitschriften. Die Zeitungen hätten Marketing und Werbung sträflich vernachlässigt; vor allem gelte es, die verschiedenen ethnischen Gruppen anzusprechen – allein 41 Prozent der Angelinos waren schon damals spanischer Abstammung, aber auch asiatische Minderheiten sind stark vertreten.

Keiner seiner Kritiker konnte eine Kompromittierung der Redaktion belegen. Der vielleicht schlagkräftigste Gegenbeweis: Die fundiertesten und kritischsten Berichte über die Los Angeles Times erschienen im eigenen Blatt. Schonungslos referierte dort der inzwischen verstorbene Medienredakteur David Shaw auch die Kritik an Willes: „Skeptiker bei der Los Angeles Times ebenso wie in der ganzen Branche befürchten, daß die Strukturen und die Atmosphäre, die Willes schafft, unausweichlich dazu führen wird, daß sich Redakteure auf der mittleren oder unteren Ebene kompromittieren lassen.“ Willes hatte mehrere solche Beiträge vor der Veröffentlichung nicht einmal lesen wollen.

Selbst der Erzrivale von der Ostküste, die New York Times konzedierte schliesslich, die Befürchtungen, daß unter Willes „Profit-Motive die Integrität der redaktionellen Arbeit gefährdeten“, seien weithin abgeflaut. Dafür kreidete ihm das Blatt jetzt jedoch an, daß er an der Umsetzung seiner Ideen zu scheitern drohe. In den zwei Jahren seines Regiments als Verlagschef seien zwei Drittel der leitenden Redakteure und Verlagsmitarbeiter „entweder davongelaufen oder vor die Tür gesetzt worden.“ Willes wiederum räumte im persönlichen Gespräch ein, dass es im Hause Konflikte gegeben hatte, hielt dies aber für einen normalen Vorgang.

Ausserdem zeigte Willes Sinn für Humor. Als er vor Amerikas versammelten Zeitungs-Chefredakteuren in San Francisco einen Vortrag hielt, kostete er es aus, die Liste der Spitznamen preiszugeben, mit denen er von der Presse bereits bedacht worden war – darunter „Cereal Killer“, was sich lautmalerisch in „Serien-Killer“ übersetzt und zugleich auf seine Vergangenheit in der Lebensmittel-Branche anspielte, dito „Captain Crunch“. Sodann noch „Corporate El Nino“, was ihn besonders gut charakterisierte, weil er tatsächlich wie ein Tornado den ihm anvertrauten, in Trägheit erstarrten Medienkonzern aufmischte.

Ungerechtfertigter Medienwirbel

Um Kopf und Kragen hat er sich gebracht, als er hinter dem Rücken seiner Redaktion mit dem Staples Center, einer neuen Sportarena in Los Angeles, einen Sponsoring-Vertrag abschloss, in dem die Anzeigeneinkünfte einer Verlagsbeilage zur Eröffnung des Center zwischen dem Verlag und dem Sportstättenbetreiber geteilt werden sollten. Im Gegenzug durfte die LA Times in der Arena exklusiv verkauft werden, und einige Verlagsobere bekamen bevorzugt Tickets auf der Tribüne. Als das Anzeigengeschäft für die Beilage nicht so geschmiert lief wie erhofft, wurde verlagsintern überlegt, an ihrer Stelle ein Sonderheft des Los Angeles Times Magazine der Sportstätte  zu widmen – und daraus wurde Willes schliesslich der Strick gedreht.

Im Rückblick gab es um den Deal erheblich mehr Medienwirbel, als sachlich gerechtfertigt gewesen sein dürfte. Denn bis heute hat kein amerikanischer Medienexperte plausibel zu erklären vermocht, was an dem Geschäft, das ja eher ein Akt des Sponsoring war, wirklich anrüchig gewesen sein soll. Ein Versuch, die Berichterstattung zu beeinflussen, kann es jedenfalls nicht gewesen sein – sonst hätte die Redaktion von dem Vertrag ja etwas wissen müssen. Je mehr sich der Medienjournalismus etablierte, desto öfter wurden auch in den USA Verlagsmanager und Medienunternehmen Opfer derselben Skandalisierungs-Mechanismen, von denen viele Stars, Politiker und Unternehmen, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, längst ein Lied singen können.

In den dutzenden Artikeln, die angesehene Zeitungen ebenso wie die Fachpresse über die Los Angeles Times veröffentlichten, wurde indes kaum irgendwo die neue Organisationsstruktur als das gewürdigt, was sie vor allem war: Eine überfällige Dezentralisierung einer wuchernden Bürokratie, von der Kathy Kristof, eine Kolumnistin der Zeitung, meinte, „nicht einmal mehr das sowjetische Politbüro hätte mit ihr mithalten können“.

Ideen branchenweit diskreditiert

Nach dem Abgang von Willes beschleunigte sich der Niedergang der Los Angeles Times. Im Rückblick ist Willes wohl zu rehabilitieren. Was er versucht hat, war wegweisend und hätte den Zeitungen aus der sich anbahnenden Krise heraushelfen können: Marktforschung, tägliches Feedback aus der Leserschaft, und ein Anzeigen-Marketing, das, an die Ressorts gekoppelt, die redaktionellen Planungen kennt und aufnimmt, ohne selbst auf die redaktionelle Arbeit Einfluss zu nehmen – das alles waren kreative, hochintelligente Konzepte, um Qualitätsjournalismus angesichts einer bereits dramatisch schrumpfenden Ressourcenbasis zu befördern, nicht um ihn zu zerstören.

Hätte man diese Konzepte, zumal die täglichen Umfragen unter Lesern, die Willes in Aufrag gab, weiterverfolgt, wäre das Ausmass kaum denkbar, in dem die amerikanischen mainstream media heute noch immer an den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Publika vorbei produzieren.

Dass die Journalisten selbst nicht genau hingeguckt und stattdessen, dem Herdentrieb folgend, Willes skandalisiert und „abgeschossen“ haben, entbehrt nicht der Tragikomik; es war ein schlimmer Schuss ins eigene Knie. Denn mit Willes waren auch seine innovativen Ideen branchenweit diskreditiert. Das dürfte erheblich dazu beigetragen haben, dass die Zeitungen noch schneller und tiefer in die Krise schlitterten.

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