Neue Zürcher Zeitung, 8. April 2005
Fehlende öffentliche Archive für Radio und Fernsehen
Radio- und Fernsehprogramme werden hierzulande nur mangelhaft archiviert. Damit bleibt der Nachwelt ein wichtiger Teil der modernen Kultur verschlossen. Die USA, Frankreich und Australien kümmern sich besser um ihr audiovisuelles Erbe.
Obwohl das Fernsehen am 11. September 2001 und in den ersten Tagen danach eine der wichtigsten Informationsquellen war, sind die Archivlage und damit der nachträgliche Zugang zu diesem historisch bedeutsamen Sendematerial problematisch. In einer Forschungsarbeit zur Krisenberichterstattung über die Terroranschläge sollte das deutsche Fernsehprogramm mehrerer Tage ausgewertet werden. Die Studie, von einem der Autoren dieses Beitrags ausgeführt, zeigte jedoch, dass sich das Fernsehen zuweilen gegen seine eigene Archivierung sträubt.
Erhebliche Gebühren
Nachdem bei allen überregionalen Programmanbietern Archivmaterial zur wissenschaftlichen Erforschung erbeten worden war, kam es zu folgenden Reaktionen: Die Hälfte der angefragten Sender gab ein positives Signal. Natürlich, hiess es, liege das eigene Sendematerial vor und könne problemlos gegen eine geringe Gebühr für wissenschaftliche, nichtkommerzielle Zwecke zur Verfügung gestellt werden. Die andere Hälfte der Sender reagierte zurückhaltender. Prinzipiell sei man bereit, eigenes Material zur Verfügung zu stellen, allerdings würden dafür erhebliche Gebühren in Höhe von mehreren hundert Euro pro Sendetag anfallen. Man betrachte die Unterstützung von akademischer Forschung nicht als ein vorrangiges Anliegen. Ein einziger Sender sah sich zunächst zu keiner Reaktion veranlasst. Nach mehrfacher Rückfrage wurde informell eingeräumt, dass das angeforderte Material nicht oder nur zum Teil vorhanden sei. Ausser einzelnen Sendebeiträgen lagen keine kompletten Programmaufzeichnungen vor – dem angefragten Sender hätten am 11. September 2001 und in den darauf folgenden Tagen die nötigen Kapazitäten für die Archivierung gefehlt.
Fixiert aufs Schriftliche
Das Beispiel illustriert, wie selbst nach einem herausragenden Ereignis schmerzliche Gedächtnislücken in den Rundfunkarchiven klaffen können. Auch wenn in jenem spezifischen Fall die Datenerhebung am Ende trotzdem erfolgreich verlief, muss sich die Mediengesellschaft jedoch fragen, ob sie den einzelnen Sendeanstalten künftig ein so grosses Mass an Willkür zugestehen will. Denn während seit Jahrhunderten öffentliche Bibliotheken die Erhaltung unseres kulturellen Wissens für nachfolgende Generationen sicherstellen, verflüchtigen sich in Deutschland, aber auch in der Schweiz grosse Teile unseres audiovisuellen Kulturguts – im journalistischen Jargon spricht man vom Versenden. Die anhaltende Fixierung auf das Prinzip der Schriftlichkeit bedeutet aber, den gesellschaftlichen Einfluss des Rundfunks erheblich zu unterschätzen. Schämen wir uns etwa, die «Dschungel-Show» trotz (oder gerade: wegen) ihrer hohen Quote der Nachwelt als Zeugnis unserer Alltagskultur zu erhalten? Form und Inhalt medialer Produkte enthalten Informationen, die sowohl als Sekundär- als auch als Primärquelle für künftige Generationen aufschlussreich sein werden: Neben gut recherchierten Beiträgen zu einer Vielzahl von Themen transportieren Medien Bilder von scheinbar Banalem: Moden, Umgangsformen, Requisiten, Studiodekorationen oder Konsumgüter im Werbefernsehen. Der bis dato verschwenderische Umgang mit diesem Erinnerungsfundus hinterlässt jedoch nicht nur künftig gravierende Wissenslücken über unsere Kultur und Lebensweise. Bereits heute verschliesst sich die Mediengesellschaft einem faszinierenden Reflexionspotenzial. Doch haben öffentliche Institutionen wie Schulen, Universitäten oder Kunstakademien mit begründetem Interesse an Medienkultur in der Regel keinen Zutritt zu den Rundfunkarchiven. Einzige Ausnahme: die Verwaltung des DDR-Rundfunks durch die Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv (DRA) am Standort Potsdam- Babelsberg. Neben dem Rundfunkerbe der DDR konzentriert sich das DRA auf die Archivierung öffentlichrechtlicher Programme – wenngleich auch hier noch deutlich der Akzent auf der Sicherung vor dem des öffentlichen Nutzwerts liegt.
Öffentlicher Zugang wichtig
Auch die Rundfunkmedien selbst verschliessen sich derzeit noch demokratischen Archivlösungen -nicht nur die privaten, auch die gebührenfinanzierten. Immerhin wurde im November 2000 auf Anregung der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv und des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland das Netzwerk Mediatheken gegründet, welchem sich inzwischen 30 überregionale Medienarchive, Bibliotheken, Dokumentationsstellen, Forschungsinstitute und Museen angeschlossen haben. Angesichts der rund 1200 audiovisuellen Mediensammlungen in Deutschland, die grösstenteils nicht öffentlich zugänglich sind, ist dies kaum ausreichend. Was nach Ansicht von Experten fehlt, ist eine Koordinationsstelle, die das Programmgedächtnis von ARD über MTV bis RTL 2 und SF 1 sichert und nichtkommerziell motivierte Zugriffsmöglichkeiten gewährleistet. Erfahrungen aus den USA, Frankreich und Australien belegen zudem, dass die Archivierung und die Bereitstellung audiovisueller Erzeugnisse – jenseits aller urheberrechtlichen und finanziellen Fragen – durchaus möglich sind. In New York existiert seit 1975 das Museum of Television and Radio (MT&R). Mit bis zu 180 Besuchern pro Tag und rund 90 Mitarbeitern zählt das MT&R nach der Inathèque de France in Paris zu den grössten Einrichtungen dieser Art. Finanziert wird es von den nationalen amerikanischen TVSendern, von Sony und Time Warner sowie von multinationalen Unternehmen und Mäzenen (etwa Dan Rather, Haim Saban und Steven Spielberg). Der öffentliche Zugang ist durch ein sogenanntes Researcher's Program gewährleistet, an dem prinzipiell jeder teilnehmen kann, der einen Antrag stellt. Genutzt wird es momentan vor allem von Akademikern, Journalisten, Schauspielschülern und Künstlern. Für 25 Dollar (ermässigt 15 Dollar) am Tag können Teilnehmer derzeit auf 120 000 Titel zugreifen, jährlich kommen etwa 10 000 neue Titel hinzu.
Rundfunkarchiv in Paris
Seit 1995 gewährleistet auch das nationale Rundfunkarchiv in Paris einen Publikumszugang. Die in der Nationalbibliothek ansässige Inathèque de France hat über 1,7 Millionen Stunden Rundfunkmaterial gesammelt und einen Grossteil davon bereits digitalisiert. Frankreichs Programmsammler profitieren davon, dass die Radio- und Fernsehanbieter gesetzlich verpflichtet sind, die Inathèque mit Sendematerial zu beliefern. Seit 2004 gehen inzwischen jährlich mehr als 650_000 Stunden Sendemitschnitte des Programms von 87 Rundfunkanbietern (70 TV, 17 Radio) in den Bestand der Inathèque ein.
Schweiz und Deutschland im Verzug
In Australiens Hauptstadt Canberra gibt es ebenfalls ein vergleichbares Medienarchiv: Das 1983 gegründete National Screen and Sound Archive ist an die Australian National Library angegliedert. Finanziert wird es zu einem grossen Teil vom Ministerium für Kommunikation und Kunst. 160 Mitarbeiter sammeln hier systematisch Bild- und Tonmaterial. Auch ohne eine gesetzliche Ablieferungspflicht stellen Produzenten und Programmanbieter ihr audiovisuelles Material bereitwillig zur Verfügung, Interessierte können die Mediathek kostenlos nutzen. Im Vergleich zu diesen herausragenden Beispielen für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem nationalen Rundfunkerbe nehmen sich die schweizerischen und deutschen Bemühungen bescheiden aus. Zwar verfügt Art. 69 des schweizerischen Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen von 1991 (RTVG), dass die Veranstalter «alle Sendungen aufzeichnen und die Aufzeichnungen sowie die einschlägigen Materialien und Unterlagen während mindestens vier Monaten aufbewahren» sollen, doch scheint hier die Motivation eher zivilrechtlicher als kulturpolitischer Natur. Gemäss Art. 23 des Entwurfs für ein neues RTVG kann der Bundesrat Programmveranstalter verpflichten, «Aufzeichnungen ihrer Programme zur Verfügung zu halten, damit diese der Öffentlichkeit dauerhaft erhalten werden können». Doch befindet sich das Gesetz immer noch in der parlamentarischen Behandlung. Somit verfügt auch die Schweiz noch über kein Archiv, das privates wie öffentliches Radio und Fernsehen speichert und der Öffentlichkeit zugänglich macht. Dabei setzt sich in der Schweiz der 1995 gegründete Verein Memoriav zur Erhaltung und Vermittlung des audiovisuellen Kulturguts ein. An dem in Bern sitzenden Verein, der die Vernetzung bestehender schweizerischer Institutionen gewährleisten soll, sind die Landesbibliothek, das Bundesarchiv, die Landesphonothek und das Institut zur Erhaltung der Fotografie der Schweiz, das Schweizer Filmarchiv, die SRG und das Bundesamt für Kommunikation beteiligt. Daneben beherbergt auch die in Lausanne ansässige Cinèmathè que suisse eine gut ausgestattete Bibliothek und Videothek, und doch bleibt der Katalog ihrer Filmsammlung bis anhin der Öffentlichkeit verschlossen.
Versuche seit fast zwanzig Jahren
Während in der Schweiz also zumindest rechtliche Grundlagen für die Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts geschaffen werden, setzt Deutschland noch immer auf das Prinzip der Eigenverantwortung. Tatsächlich reicht die deutsche Debatte um eine Mediathek beinahe zwanzig Jahre zurück: Bereits 1987 regte der damalige TV-Kulturchefredaktor des Westdeutschen Rundfunks, Hans-Geert Falkenberg, ein Museum für Rundfunkgeschichte an. Der Dokumentarfilmer Eberhard Fechner unterstützte wenig später diese Idee. Damals forderte er eine Sammelstelle für Audiovision vor allem deshalb, weil der Norddeutsche Rundfunk einige seiner im Archiv verwahrten Filme zur «Frischbandgewinnung» einfach überspielt hatte. Trotz allen Anstrengungen zur Verbesserung der Situation wurden Falkenbergs und Fechners Ideen bis heute nicht umgesetzt – wegen finanzieller und politischer Widrigkeiten. Und das, obwohl in den neunziger Jahren erneut Schwung in die Debatte kam: Die Mediathek, so wurde angekündigt, sollte im Berliner Sony-Center zusammen mit der Stiftung Deutsche Kinemathek eine Heimstätte finden – mischfinanziert aus privaten und öffentlichen Geldern. Angesichts leerer Hauptstadtkassen, der Pleite des Medienmoguls Leo Kirch und des plötzlichen Ausstiegs von Geldgeber RTL (der später erneut zusagte) konnte erst durch eine Zusicherung des Bundes, durch EU-Fördermittel und Lotteriegelder eine solide Finanzierungsbasis gefunden werden.
Deutsches Fernsehmuseum ab 2006?
Nun soll 2006 ein Deutsches Fernsehmuseum seine Pforten am Potsdamer Platz öffnen. Doch hat man sich inzwischen nicht nur von der Bezeichnung Deutsche Mediathek gelöst, sondern auch von seinem ursprünglichen, sehr ambitionierten Ziel. Weil sich das entstehende Museum vornehmlich auf das Unterhaltungsfernsehen beschränken wird, sehen Medienwissenschafter nur eine schmale Variante der ursprünglichen Vision verwirklicht. Gerade zu wissenschaftlichen Zwecken, wird kritisiert, bedürfe es eines Archivs, das die Programme eins zu eins erfasst. Bei allem Lob, das die Berliner für das Fernsehmuseum verdienen – es kann nur ein erster Schritt in Richtung eines grossen Medienarchivs sein. Das Fernsehen ist zu wichtig, als dass es nur in Auszügen erhalten bleibt. Nur ein umfassendes Medienarchiv garantiert die langfristige Speicherung unseres Rundfunkerbes. Mehr noch: Die Bedeutung der Massenmedien als Kulturspiegel und -erzeuger regt unterschiedliche Gemüter auch jetzt schon zur kritischen (Selbst-)Reflexion an. Insbesondere die Kommunikationswissenschaften, die Pädagogik, aber auch der Journalismus selbst könnten neben vielen anderen Bereichen und Berufsgruppen die Möglichkeiten eines Medienarchivs zur Beobachtung medialer wie gesellschaftlicher Entwicklungen hervorragend nutzen. Gerade der technologische Fortschritt der vergangenen Jahre, etwa die Entwicklung moderner Speichermedien wie der DVD, ermöglicht heute eine vergleichsweise unproblematische Vollerhebung und Archivierung des Radio- und Fernsehprogramms. Selbst für Dokumentation und Katalogisierung hält sich der finanzielle Aufwand im digitalen Zeitalter in Grenzen. Die Errichtung eines audiovisuellen Medienarchivs mit öffentlichem Zugang ist daher umso mehr ein dringend gebotener kulturpolitischer Schritt.
Dirk Leuffen arbeitet am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Stephan Alexander Weichert ist Herausgeber des Medienmagazins «Cover». Er arbeitet als Medienwissenschafter in Hamburg.
Full paper, Stiftung Medientest, Die Stimme des Publikums, Medienheft, 4. Juli 2005 (PDF, 92 KB)
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