Mit Unternehmertum aus der Krise des Journalismus?

22. November 2019 • Forschung aus 1. Hand, Redaktion & Ökonomie • von

Wer heute ein Start-up im Journalismus gründet, sollte einen Blick auf die „Generalanzeiger-Presse“ des 19. Jahrhunderts werfen, denn von ihren Geschäftspraktiken lässt sich lernen.

Die gegenwärtige Krisenlage des Journalismus wird nicht selten als eine beispiellose Herausforderung und ein noch nie dagewesener Umbruch dargestellt. Dabei zeigt ein Blick auf die Gründerzeit der kommerziellen Massenpresse in Deutschland, dass der Journalismus auch schon zu früheren Zeiten Phasen eines tiefgreifenden Wandels durchlief. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren es vorrangig neugegründete Zeitungsverlage, die unternehmerische Gelegenheiten der Industrialisierung ausschöpften und so dem neuartigen Medienprodukt „Generalanzeiger“ – Ausgangspunkt der Massenpresse in Deutschland – zum Durchbruch verhalfen. Damalige Verleger erkannten die schwindende Relevanz alter Geschäftsmuster der vorherrschenden Partei- und Gesinnungspresse und erprobten innovative Inhalte, Finanzierungsmodelle und Organisationsformen. So entstand der Nährboden für das Journalismusgeschäft des 20. Jahrhunderts: populäre und breitenwirksame (Regional-)Inhalte, ein Anzeigen-Leserzahlungen-Erlösmodell, die industrielle Produktionsstruktur im Verlag.

Unter den Bedingungen von Digitalisierung und Vernetzung tritt heute eine neue Generation von Unternehmern auf den Plan, die abseits der etablierten publizistischen Strukturen digitaljournalistische Medienprojekte initiiert. Was aber können diese Gründer von ihren Vorläufern im 19. Jahrhundert lernen? Die historische Episode bildet keine Blaupause. Sie erhellt aber, welche Lösungsansätze die „Generalanzeiger-Presse“ in ihrer Etablierungsphase für typische Herausforderungen erprobte und wie ihre Experimente und Richtungswechsel verliefen. Dieses Wissen kann eine Quelle von Inspiration und Motivation für diejenigen sein, die sich heute unternehmerisch im Journalismus betätigen.

Inhalte: Die Generalanzeiger identifizierten den Gesellschaftswandel der industriellen Revolution und die damit verbundenen (regional) unterversorgten Leserschichten (u.a. Industriearbeiterschaft, Stadtbevölkerung) als strukturellen Vorteil ihres Geschäfts. Die in diesen Schichten (neu entstandenen) Orientierungsbedürfnisse sprachen sie erstmals dediziert mit einem Massenprodukt an. Gleichwohl waren den Gründern die Interessen und Bedarfe der neuen Leserinnen und Leser keineswegs von Anfang an offensichtlich. So setzten einige Neugründungen zunächst vorrangig auf den Abdruck von (Klein-)Anzeigen im Stil der sogenannten Intelligenzblätter bzw. Inseratenorgane. Der redaktionelle Teil wurde dabei stark vernachlässigt; ohne Journalismus jedoch, so viel zeigte sich schnell, waren weder dauerhafte Reichweite noch Leserbindung aufzubauen. Ähnlich wie die „Generalanzeiger“ anhand des Gesellschaftswandels der industriellen Revolution können heutige Neugründungen im digitalen Journalismus Orientierungsbedürfnisse, Informationswünsche und Nutzererwartungen aufgreifen, die im Zuge der gegenwärtigen sozialen und kulturellen Veränderungen in die Welt kommen. Die bewusste Suche nach gesellschaftlichen Trends und sozialen Verschiebungen, die Identifikation journalistisch unterversorgter Nischen und Communitys sowie die Erprobung dahingehend aussichtsreicher Inhalte und Formate geschieht in digitalen Mediengründungen heute noch zu selten – eine solche Nutzerzentrierung erweist sich vor dem historischen Hintergrund jedoch als zentral.

Erlösmodelle: Während seiner Etablierungsphase bediente sich der neue Zeitungstyp anfangs einer kostenlosen Verteilung, um schnell große Reichweite aufzubauen und die Attraktivität für Werbekunden zu steigern. Dabei profitierten die „Generalanzeiger“ stark von der steigenden Nachfrage werbungtreibender Unternehmen nach der Aufmerksamkeit ihrer Publika: Sie wurden zum wichtigsten Werbemittel für den Handel vor Ort, da sie – im Unterschied zur etablierten Partei- und Gesinnungspresse – durch ihre inhaltliche Gestaltung ein wesentlich größeres Spektrum der Bevölkerung und damit potenzieller Käufer von beworbenen Produkten ansprachen. Die Gratisverteilung fußte jedoch auf Subvention, weshalb nach einer Weile der Zeitpunkt kam, an dem Leser zu regelmäßig zahlenden Abonnenten konvertiert werden sollten. Den „Generalanzeigern“ gelang diese Konvertierung nur durch die Kombination mehrerer Maßnahmen, vorrangig durch einen – zumindest anfangs – sehr geringen Bezugspreis, durch verkürzte Kündigungsfristen (bzw. Zahlungsrhythmen) und zusätzliche Anreize für Abonnenten (z.B. Gratisprodukte wie Freiannoncen, eine spezifische Versicherung mit dem Abonnement oder durch die regelmäßige Lieferung von nützlichem Papier frei Haus). Für heutige Neugründungen ist die Gewinnung zahlender Nutzer nochmals entscheidender geworden. Gründer im digitalen Journalismus können die Zahlungsbereitschaft ggf. erhöhen, indem sie ihre journalistischen Produkte mit zusätzlichen, nicht-medialen Angeboten verkoppeln. Deshalb sollten sie – ähnlich wie die Generalanzeiger – ihre dahingehenden Experimente intensivieren und so vielseitig wie möglich gestalten.

Neue Formen von Organisation und Arbeit: Die Generalanzeiger verwendeten als erste konsequent industrielle Prinzipien, insbesondere die vertikale Integration der Zeitungsherstellung im (Groß-)Verlag und eine hochgradige Arbeitsteilung im Betrieb. Diese Prinzipien gelangten zunächst über den technischen Druckprozess der Zeitung in die Organisation und hielten anschließend Einzug in alle Verlagsabteilungen, auch in die Redaktion. Diese Geschäftsmuster der Industrialisierung stellten einen nachhaltigen Bruch mit den etablierten Organisationsformen der bestehenden Altverlage dar. So wie die damaligen Unternehmen die neuen industriellen Prinzipien nicht allein in Herstellung und Vertrieb, sondern auch im Redaktionellen zum Einsatz brachten, können heutige Gründungen digitale, vernetzte Medien zur Grundlage post-redaktioneller Organisationsstrukturen und einer virtuellen Zusammenarbeit im Journalismus machen. Wenn die traditionelle Organisationsform der Redaktion (schon allein aufgrund des entstandenen Ungleichgewichts zwischen ihrer Kostenstruktur und den potenziellen Geschäftserlösen) absehbar nur noch als Ausnahme fortbestehen kann, ist es umso wichtiger, alternative Modelle, die im digitalen Zeitalter möglich werden, z.B. dezentrale Journalisten-Netzwerke, Rechercheverbünde oder Gründer-Plattformen, zu erproben.

Das digitale Zeitalter hat einen veränderten Möglichkeitsraum des Journalismus geschaffen, den es zu gestalten gilt. Die historische Etablierung der „Generalanzeiger-Presse“ unterstreicht, dass einem experimentellen, unternehmerischen Handeln als Such- und Entdeckungsverfahren für neue Geschäftspfade hierbei große Bedeutung zukommt. Auch wenn die historische Analogie nur eingeschränkt – eben nur für Verfahren und Experimentierweisen – trägt, sollten sich heutige Journalismusgründungen die Verleger des Industriezeitalters zum Vorbild nehmen.

Der Beitrag fußt auf dem kürzlich vom Autor veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel „Unternehmerisches Handeln im Journalismus gestern und heute“ in der Fachzeitschrift MedienWirtschaft.

Eine längere Version des Beitrags erschien zuerst in „journalist – das Medienmagazin“ (Ausgabe 8/2019).

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