Wem gehört die Titelseite einer Zeitung? Den Journalisten jedenfalls nicht mehr.
Der Pionier ist die Helsingin Sanomat. Das Blatt aus Helsinki ist die größte Qualitätszeitung Skandinaviens. Es ist so etwas wie die NZZ des Nordens.
Schon vor fünfzig Jahren unterschied sich die Helsingin Sanomat von allen anderen Blättern der Welt. Ihre Frontseite war ausschliesslich für Werbung reserviert. Das ist bis heute so geblieben. Unter dem Zeitungskopf findet sich auf Seite eins der Seat Ibiza, das iPhone oder das verbilligte Rentierschnitzel.
Der Journalismus beginnt dann auf Seite zwei.
Bei der Neuen Zürcher Zeitung haben sie das am vergangenen Samstag nachvollzogen. Hier begann der Journalismus sogar erst auf Seite drei. Die Werbung für den Porsche Panamera absorbierte die ganze Titelseite und auch die Seite zwei der NZZ.
In der Redaktion gab die seitenfüllende Werbung auf der Front natürlich sehr zu reden. Denn es wurde das Kraftfeld des Journalismus auf den Kopf gestellt.
Journalismus ist in erster Linie ein Ordnungsprinzip. Es ist die Hierarchisierung der Welt. Die Redaktion entscheidet für ihre Leser, was für sie wichtig und was unwichtig ist. Das schlägt sich in der Blattstruktur nieder.
Bei sogenannten Weltblättern wie der NZZ steht zuvorderst der Auslandteil. Dann folgen die Kommentare, dann das Ressort Schweiz. Die Redaktion signalisiert damit ihren Anspruch. Erst Berlin, dann Bern. Kosmopolitische Weltdeutung kommt vor dem Kleinkram der Bundespolitik.
Sommaruga vor Obama
Bei überregionalen Blättern wie dem Tages-Anzeiger und der Aargauer Zeitung steht vorn der Inlandteil, dann folgen Ausland und Region. Auch damit signalisiert die Redaktion ihren Anspruch. Sommaruga vor Obama. Zuvorderst steht der Fokus auf helvetische Themen.
Bei Regionalblättern wie Berner Zeitung und Zürichsee-Zeitung steht am Anfang das Geschehen in der Umgebung, dann folgen Schweiz und Ausland. Erst der Scheunenbrand, dann die Sozialwerke. Es ist das Bekenntnis zur eigenen Provinzialität.
Bei Boulevardblättern wie Blick und 20 Minuten ist das Ordnungsprinzip der Verzicht auf eine starre Ordnung. Die Strukturierung der Welt folgt nicht einem vordefinierten Kriterium von Relevanz, sondern der vermuteten Resonanz beim Publikum. Erst der Ehekrach, dann die Energiepolitik.
Bei allen Konzepten geht es um Deutungsmacht. Eine normative Instanz, in unserem Fall die Redaktion, liefert eine Schablone, die über die vielfältige Realität gelegt wird, sie katalogisiert und dadurch hierarchisiert.
Lange Zeit war in dieser Welterklärung kein Platz für Werbung. Werbung war sinnentleert und darum unerwünscht, erst recht zu Zeiten, als es sie in den Blättern noch massenhaft gab. Sie wurde auf die unattraktivsten Plätze in der Zeitungsarchitektur verbannt, am liebsten links und möglichst weit hinten.
Unantastbar war stets die Titelseite. In der NZZ zum Beispiel gab es heftige Kulturkämpfe, bis auf der Front erstmals ein 1/16-Inserat von Omega oder Mercedes abgedruckt wurde. Ähnlich heftig waren auf Redaktionen die Abwehrschlachten, als die Werber damit begannen, kleine Post-it-Zettel und Warenmuster auf die heilige Titelseite zu kleben.
Zu Zeiten, als es Werbung in den Blättern noch massenhaft gab, war sie des Teufels. Heute, da es kaum noch Werbung in den Blättern gibt, ist sie ein Heiligtum. Sie darf nun formatfüllend gar die Titelseite okkupieren. Sogar die stilkonservative NZZ-Redaktion widerruft dazu ihre frühere Gestaltungshoheit des Erdgeschehens.
Das Dumme daran ist nur, dass auch dies die Werbung nicht in die Presse zurückholen wird.
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Schlagwörter:Deutungsmacht, Helsingin Sanomat, NZZ, Porsche Panamera, Titelseite, Werbung