Symbolfiguren der Institution

9. Februar 2015 • Redaktionsmanagement • von

Sind Chefredakteure wichtig? Das glaubt nur, wer nichts von Medien versteht.

Wenn man ein Leben lang in der Medienbranche gearbeitet hat, so wie ich, dann hat man eines gelernt: Keine Branche ist so hysterisch wie die Medienbranche.

Den schönsten Beleg liefern uns die hysterischen Journalisten derzeit rund um die Wahl des neuen NZZ-Chefredakteurs. Wir erleben ein “Desaster” (Bilanz), wir erleben “Verrat” (Schweiz am Sonntag), “Niedergang” (Tages-Anzeiger) und “Entsetzen” (Aargauer Zeitung).

Hunderte von Artikeln und Sendungen wurden zuletzt zur NZZ publiziert. Die meisten drehten sich um die Unerhörtheit, dass Markus Somm, der Co-Verleger der Basler Zeitung, beinahe NZZ-Chefredakteur geworden wäre. Dann, so waren sich die Medien einig, wäre die NZZ untergegangen, der Freisinn untergegangen, die Schweiz untergegangen, und vielleicht auch das Sonnensystem.

Wenn Medien wieder mal hysterisch werden, muss man etwas entdramatisieren.

Wer sich in der Branche auch nur ein bisschen auskennt, der weiß, welche Rolle Chefredakteure spielen. Er weiß: Es spielt keine Rolle, wer neuer Chefredakteur der NZZ wird.

Chefredakteur gehört zu den meistüberschätzten Berufen dieser Welt. Vergleichbar in diesem Punkt ist er dem Papst. Wie die Päpste sind Chefredakteure primär Symbolfiguren. Sie stehen für einen konservativen oder progressiven Kurs, für Bewahrung oder Erneuerung. Sie senden ideologische Signale ans Publikum. Im Betrieb, wo es darauf ankommt, sind sie deutlich wirkungsloser.

Der Vatikan bleibt der Vatikan, egal, wie der Pontifex heißt. Bei Zeitungen und TV-Sendern ist es genauso. Sie sind stabile Kulturbollwerke, die über Jahrzehnte gewachsen sind und sich geistig verfestigt haben. Der Mann an der Spitze kann diese Fundamente nie erschüttern.

Chefredakteure sind Hampelmänner der bestehenden Betriebskultur. Ich kann das beurteilen, ich stand in der Schweiz und Italien lange und bis heute an der Spitze von Redaktionen. Nur von außen betrachtet scheinen wir Chefredakteure entscheidende Figuren zu sein. Gegen innen haben wir nicht allzu viel zu melden.

Das hat damit zu tun, dass Redaktionen bis heute in antiautoritären Strukturen leben. Redaktionelle Kollektive sind Widerstandsblöcke. Anweisungen oder gar Befehle von oben werden ignoriert. Wünsche von Vorgesetzten sind noch knapp zulässig, werden in der Regel aber nicht erfüllt.

Ein Chefredakteur, der eine gute Idee zu einem Thema hat, muss darum taktisch vorgehen. Wenn er seine Idee an der Redaktionskonferenz öffentlich formuliert, dann ist die Idee sofort tot. Er geht also nach der Sitzung zum zuständigen Ressortleiter, unterbreitet ihm die gute Idee und schärft ihm ein, um Himmels willen niemandem zu sagen, woher die Idee stammt.

Bei der politischen Ausrichtung ist die Gestaltungskraft von Chefredakteuren noch geringer. Es gab mehrere Versuche, den Tages-Anzeiger vermehrt bürgerlich auszurichten. Es gelang nie. Genauso gab es mehrere Versuche, den Blick näher an SVP-Positionen heranzuführen. Es gelang nie. Und würde ein Christoph Mörgeli zum TV-Chef gewählt, auch er würde mit Sicherheit daran scheitern, das Schweizer Fernsehen stärker isolationistisch auszurichten.

Traditionelle Medien sind Regelsysteme mit einer kaum veränderbaren Identität. Ihre Kultur ist enorm stabil. Mitarbeiter kommen und gehen, der Geist und die Rituale des Unternehmens aber bleiben. Das ist nicht nur bei Zeitungen so. Es ist genauso bei der Tagesschau und beim Echo der Zeit.

Es spielt keine Rolle, wer neuer Chefredakteur der NZZ wird. In den Medien hat noch nie eine Person eine Institution verändert.

 

Erstveröffentlichung: Die Weltwoche vom 29. Januar 2015, Seite 15

 

Bildquelle: Ronile/pixabay.com

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