Der Blick war 56 Jahre lang der lebendigste Akteur der Schweizer Zeitungsszene. Nun erleidet das Blatt, führungs- und seelenlos, den schleichenden Tod eines Koma-Patienten.
Über die Chefredaktoren des Blicks gibt es viele gute Geschichten. Besonders gute Geschichten gibt es darüber, wie und warum die Chefredaktoren des Blicks gehen mussten.
Dass es viele gute Geschichten gibt, wie und warum die Chefredaktoren des Blicks gehen mussten, hat auch arithmetische Gründe. In den letzten zwanzig Jahren flogen elf Blick-Chefredaktoren aus dem Job. Das ist Weltrekord im Zeitungsgewerbe.
Der effizienteste Abgang war jener von Bernhard Weissberg im Jahr 2009. Um 11.00 Uhr wurde er ins Büro seines Vorgesetzten Marc Walder gebeten. Weissberg hatte sich noch gar nicht richtig gesetzt, da war er um 11.01 Uhr das Amt bereits los. Weissberg hatte mit dem Blatt vom bisherigen Zeitungsformat erfolglos ins Halbformat gewechselt. Als der Blick nun zum großen Format zurückkehrte, war auch Weissbergs Zeit blitzartig vorbei.
Der unvermeidlichste Abgang war jener von Jürg Lehmann im Jahr 2002. Verleger Michael Ringier entschuldigte sich damals öffentlich bei Ex-Botschafter Thomas Borer und überwies ihm ein paar Millionen aufs Konto. Unter Chefredaktor Jürg Lehmann hatte der Blick den Botschafter monatelang als verlogenen Sexmolch dargestellt. Wenig später bot Lehmann dem Verleger im kleinen Kreis den Rücktritt an. „Die Erleichterung war spürbar“, sagt einer, der dabei war.
Ende einer Epoche
Der spontanste Abgang war jener von Werner De Schepper im Jahr 2007. Chefredaktor De Schepper hatte ein Neukonzept für den Blick entwickelt, eine Art linkslastiges Magazin auf Zeitungspapier. In der Chefetage stieß die Idee auf laue Begeisterung. Der frustrierte De Schepper fragte seinen damaligen Mentor Nicolas Hayek, was zu tun sei. „Schlafen Sie zweimal, dann wissen Sie es“, sagte Hayek. Nach zwei Nächten warf De Schepper alles hin und räumte sein Pult. Der umstrittenste Abgang war jener von Ralph Grosse-Bley im Jahr 2013. Der talentierte deutsche Boulevardier hatte den Blick in alte Zeiten zurückpositioniert, als ruppiges Blatt mit einer heftigen Dosis an Sex and Crime. Grosse-Bley bremste damit den Auflagenschwund, stieß beim kultivierten Verleger Michael Ringier aber zunehmend auf Naserümpfen. Ringiers CEO Marc Walder setzte den allzu unzivilisierten Journalisten in seinem Büro kurzerhand ab.
Nun stellt sich natürlich die Frage, warum Ende Oktober, nach knapp zwei Jahren im Job, wiederum ein Blick-Chefredaktor gehen musste. Diesmal traf es René Lüchinger. Der frühere Bilanz-Chef war der erste Wirtschaftsjournalist an der Spitze der Zeitung.
Zur Erklärung so viel vorweg: Dass die Auflage unter Lüchinger auf den historischen Tiefpunkt von 150 000 Stück abtauchte, kann nicht der Grund für sein Ende gewesen sein. Alle seine Vorgänger seit dreißig Jahren – damals verkaufte das Blatt noch bis zu 390 000 Stück – fuhren die Auflage desgleichen in den Keller. Einige waren allerdings so kurzfristig im Amt, dass der Niedergang fast nicht messbar war. Lüchingers Abgang hat einen andern Hintergrund. Es ist das Ende einer Epoche. Ende Oktober wurde der Blick de facto als Zeitung eingestellt. Es ist nur noch ein Zombie des Blattes, das nun untot in den Briefkästen und Kiosken herumgeistert.
Um zu verstehen, was aktuell im Medienhaus Ringier und beim Blick abläuft, muss zuerst eine kurze Beschreibung von Ringiers Unternehmenskultur eingeschoben werden.
Ringier ist kein nüchtern organisiertes Unternehmen im US-Stil wie Credit Suisse oder ABB. Nüchternheit hieße, dass Konflikte erkannt, offen ausgefochten, via Prozesse in Lösungen und Entscheide verwandelt und dann abgehakt werden. Ringier ist eher ein soziologisches Netzwerk als ein durchstrukturiertes Organigramm. Wichtig ist oft, was außerhalb der Traktandenordnung geschieht. Viele Lösungen entstehen nach dem Prinzip der Kabinettspolitik, vorweg abgesprochen in internen Seilschaften und Zweckgemeinschaften.
Bei Ringier muss man nicht primär wissen, was auf dem Tisch liegt. Bei Ringier muss man primär wissen, was in der Luft liegt.
Was in der Luft liegt, ventilierten in der jüngeren Ringier-Geschichte vor allem drei Persönlichkeiten. Zuerst ist das Verleger Michael Ringier, ein souveräner und offener Typus, so offen, dass er manchmal gar zu sehr auf andere hört. Daneben steht Frank A. Meyer, der beste Publizist, den das Haus je hervorbrachte, ein Mann mit einem Flair für personelle Winkelzüge, aber doch nicht jener Rasputin, als den ihn seine Gegner gerne sehen. Marc Walder, der Dritte im Bund, wurde zum ersten operativen Chef des Hauses, dem die Familie und der Verwaltungsrat strategisch bedingungslos vertrauen. Nun lag zuletzt immer spürbarer in der Luft, dass der gedruckte Blick nur noch ein Memorial der Firmengeschichte ist. Die entscheidende Ringier-Seilschaft hat sich emotionell vom Blick losgesagt. Das einst famose Blatt, 1959 gegründet, hat heute intern noch den Stellenwert eines Koma-Patienten.
Deutlich wurde dies, als Ringier im Sommer 2015 den deutschen Journalisten Wolfgang Büchner zum Geschäftsführer der gesamten Blick-Gruppe machte. Büchner war zuvor als Chefredaktor beim Spiegel in Hamburg grandios gescheitert, weil er die Online-Redaktion deutlich aufwerten, die Print-Redaktion aber ebenso klar abwerten wollte. Die selbstbewussten schreibenden Journalisten schickten ihn zum Teufel.
Beim Blick traf Büchner auf keine selbstbewussten schreibenden Journalisten mehr. Er konnte darum zügig umsetzen, was ihm in Deutschland misslungen war. Er brach die alte Tradition des Blatts. Er machte aus der kantigen Zeitungsmarke Blick in kurzer Zeit ein verwechselbares Fastfood-Produkt.
Die Zeitungsredaktion des Blicks besteht heute noch aus zehn eigenen Journalisten. In Zukunft werden es noch etwas weniger sein.
Statt auf der eigenen Redaktion werden der Blick, der Blick am Abend und der Auftritt von Blick online nun gemeinsam am sogenannten Newsdesk im sogenannten Newsroom gefertigt. Der Newsdesk ist der interne Fleischwolf der Informationsverwurstung. Man nennt diese Kommandozentrale den „Balken“.
Knapp einhundert Journalisten arbeiten für den Balken. Ihre vorrangige Aufgabe ist es, den Newsfluss für Blick online täglich und fortlaufend am Sprudeln zu halten. Abfallprodukte dieses digitalen Informationsstroms, mit etwas Zusatzelementen angereichert, fließen dann als Artikel in den gedruckten Blick. Der Balken ist nicht daran interessiert, dass der Blick eine profilierte Zeitung ist, wie dies jahrzehntelang die DNA der Redaktion ausmachte. Eine Zeitung mit Charakter zu machen, würde Kreativität und gedankliche Anstrengung erfordern. Die Journalisten müssten inhaltlich diskutieren, was für ihr Blatt prioritär, sekundär, relevant und irrelevant ist. Für solch intellektuellen Aufwand aber ist eine industrielle Wurstmaschine wie der Newsdesk der Blick-Gruppe nicht gedacht. Er hat auch nicht die Zeit dafür.
Der Blick ist darum in den letzten Monaten ein ebenso zufälliges wie seelenloses Artefakt geworden. Wir können das kurz und gut an den Aufmachern der letzten Woche dokumentieren.
Am letzten Samstag hieß die Schlagzeile auf Seite eins des Blicks: „Fischstäbli sterben“. Am Freitag hieß die Schlagzeile auf Seite eins: „Kampfzone Beiz“. Zuvor hießen die Schlagzeilen auf Seite eins: „Janka-Schock“ und „Ex-Rega-Pilot verhaftet“ und „Deutsche erklären uns Max Frisch“. Zwischen den Fischstäbchen, Skifahrern und den Literaturkritikern trat Eveline Widmer-Schlumpf zurück. „Sie ging, bevor sie gehen musste“, titelte der Blick auf der Front. Das war wiederum ungefähr so kreativ wie die Zahlen des Mittwochslottos gleichentags.
Solche Momentaufnahmen sagen oft alles über eine Zeitungsstrategie. Der Blick hat keine Strategie mehr. Er wird am Balken täglich neu geschüttelt und gerührt, lieblos gewürzt, mit allerlei zufälligen und belanglosen Storys vom Band. Der Blick hat keine Seele mehr.
Im Boulevardjournalismus aber ist Seelenlosigkeit tödlich. Denn Boulevard ist Konzeptkunst. Er ist nur dann erfolgreich, wenn er sich auf wenige Themen konzentriert, auf die Ängste und Hoffnungen, die im Publikum brodeln. Rund um Flüchtlingskrise, Einwanderung, Integration und der daraus folgenden Gefährdung des Sozialstaates würden solch echte Boulevardthemen derzeit nur so auf der Straße liegen.
Doch Ringier will keinen originellen Blick mehr. Sterbende haben nicht originell zu sein.
Es wurde darum intern schnell klar, dass der Blick gar keinen Chefredaktor mehr braucht. Eine Zeitung, die man auf das Totenbett legt und deren Marke man nur noch digital weiter beatmet, braucht keinen Chef. Der Mann stört sonst nur mit unnötiger Kreativität die industriellen Textmanagement-Prozesse.
Eine Handvoll Inhaltsingenieure
Der langweiligste Abgang eines Blick-Chefs war darum jener von René Lüchinger im Jahr 2015. Es musste ihm gar nicht richtig gekündigt werden. Er selber musste auch nicht richtig kündigen. Es brauchte ihn eines Tages einfach nicht mehr. Mit Verleger Ringier, CEO Walder und Geschäftsführer Büchner saß Lüchinger also zusammen, alle wirkten etwas ratlos und kamen dann überein, den Posten des Schriftleiters ersatzlos zu streichen. Lüchinger darf als Trostpreis nun als „Chefpublizist“ der Blick-Familie zwischen den Fischstäbchen kommentierend wirken. An Lüchingers Stelle tritt nun der anonyme Balken. Dort entscheidet künftig eine Handvoll Inhaltsingenieure darüber, was primär ins Internet und sekundär dann ins Blatt gelangt. Die Namen der Balken-Vorsitzenden muss man sich nicht merken. Sie werden in absehbarer Zeit ohnehin umgetopft.
Es ist schade, dass es künftig keinen Blick-Chefredaktor mehr gibt. Es war immer die schwierigste Aufgabe im Schweizer Journalismus. An der Spitze musste ein Steuermann stehen, der die Segelroute vorgab. Er konnte sich nicht, anders als die Chefs von Regionalblättern, als blasser Redaktionsfunktionär über die Zeit retten. Es brauchte kreative, sture, manchmal verrückte Köpfe. Und jeder wusste, es war ein Mandat auf Zeit. Gegangen wurde jeder Blick-Chef früher oder später sowieso.
Es ist ebenso schade, dass es bald einmal keine verkaufte Boulevardzeitung mehr geben wird. Der Blick wird nicht mehr allzu lange rascheln. Das Verlagshaus Ringier hat den Titel innerlich aufgegeben.
Aber wir sollten nicht trauern. Es war eine schöne Zeit mit dem Blick. Es war schön, und jede Zeit geht vorbei.
Erstveröffentlichung: Weltwoche vom 5. November 2015
Bildquelle: Thomas8047/Flickr Cc
Schlagwörter:Balken, Newsdesk, René Lüchinger, Ringier, Schweiz Blick, Wolfgang Büchner