Warum wir uns gute Nachrichten wünschen und schlechte (oder keine) Nachrichten lesen

12. Dezember 2023 • Aktuelle Beiträge, Redaktion & Ökonomie • von

Gerade zur Weihnachtszeit nach einem Jahr voller Krisen möchten Redaktionen ihrem Publikum vielleicht verstärkt hoffnungsfrohe Geschichten anbieten. Doch es bleibt die Frage: Kommt das an?

Wunsch: Gute Nachrichten. Wirklichkeit: Negatives zieht Aufmerksamkeit an. (Foto: Marcus Kreutler)

Das Nachrichtenjahr neigt sich dem Ende entgegen, und es dürfte schwerfallen, ein positives Fazit zu ziehen – eine Aufzählung auch nur der schlechtesten Nachrichten soll hier unterbleiben, sie wird in Kürze in der Zeitung, dem Sender oder der Nachrichtenseite der Wahl zu sehen sein. In früheren Jahren wäre man in Redaktionen vielleicht mit einem achselzuckenden „bad news are good news“ oder – noch zynischer – „if it bleeds, it leads“ zur katastrophenlastigen Tagesordnung übergegangen: Wenn die Nachrichten schon keine „good vibes“ vermittelten, so sorgten sie gängigen Branchenweisheiten zufolge immerhin für Interesse und also Quote, Auflage oder Klicks.

Der Fokus auf die negativen Seiten der Weltlage ist schon im ursprünglichen Nachrichtenwert-Ansatz von Galtung und Ruge von 1965 verankert: Während dort etwa der Nachrichtenfaktor „Überraschung“ in „Vorhersagbarkeit“ ein direktes Gegenstück hat, fehlt dem Yin des „Bezugs zu Negativem“ ein solches Yang. „Bezug zu etwas Positivem“ – wie sollte das zum Nachrichtenwert beitragen? Jüngere Arbeiten haben zwar versucht, dieses Bild zu korrigieren (indem sie etwa einen Faktor wie „Erfolg“ einführen), ebenso wie Ansätze, den Journalismus konstruktiv zu machen. Aber was ist der Erfolg solcher Bestrebungen, wenn eine Krise auf die andere folgt? 2020 beschäftigten sich über 50 Prozent der deutschen Fernseh-Nachrichtenminuten mit der Covid-Pandemie. Die Nachrichtenmonitor-Daten enden mit diesem Jahr, die schlechten Nachrichten ganz oben auf der Nachrichten-Agenda dagegen nicht.

News Avoidance macht Medienprofis Sorgen

Doch die alten Gewissheiten, dass schlechte Nachrichten zumindest das Publikum bei der Stange halten, sind in den Redaktionen dahin. „News Avoidance“ ist innerhalb von vielleicht zehn Jahren von einem Forschungs– zu einem breit wahrgenommenen Branchenthema und spätestens 2023 zu einer der bestimmenden Fragestellungen im Bezug auf das Publikum geworden: Nur 12 Prozent der Ende 2022 von Nic Newman zu ihren Aussichten befragten führenden Medienleute machte das Thema keine Sorgen. Zurecht: Das Phänomen schlägt auch in Deutschland inzwischen deutlich messbar auf die Nachrichtennutzung durch. Als Reaktion finden sich Angebote mit gezielt positiven Nachrichten inzwischen bei vielen großen Medien, vom BBC-Podcast „Happy Pod“ (jüngste Folge hier) bis zum Spiegel-Newsletter „Alles Gute“, von „Good News“ beim ZDF bis zu den „Guten Nachrichten“ der Zeit. Daneben gibt es spezialisierte Neugründungen wie das „Good News Magazin“ mit Print-Zeitschrift, Website und Podcast, das allerdings gerade sein Publikum um Hilfe bei der Finanzierung bittet.

Hat der Journalismus also sein Publikum jahrzehntelang falsch verstanden, sind am Ende gute Nachrichten auch „good news“ im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie – und damit die Zukunft des Journalismus? Zweifel sind angebracht, und sie setzen auf einer sehr grundlegenden, psychologischen Ebene an: So erschien im März eine Studie, für die Claire E. Robertson und ihre Co-Autoren Daten der US-Plattform Upworthy untersuchten, mit denen diese zwischen 2013 und 2015 den Erfolg verschiedener, häufig als Clickbait zu bezeichnender Titelformate analysiert hatte. Die Datenbasis ist riesig: Über 370 Millionen mal wurden die insgesamt etwa 105.000 Titelvarianten den Upworthy-Usern angezeigt, die etwa 5,7 Millionen die Entscheidung zum Klick trafen. Robertson et al. untersuchten diese Titel nun auf das Vorhandensein positiv und negativ aufgeladener Wörter. Ergebnis: Positive Begriffe kamen zwar häufiger vor, waren aber weniger erfolgreich als negative Begriffe. In (nach Upworty-Maßstäben) durchschnittlich langen Titeln sorgte jedes negative Wort für 2,3 Prozent mehr Klicks, wobei nicht einmal besonders dramatische Wörter vonnöten waren. Im Gegensatz zu Untersuchungen von online geteilten – nicht nur gelesenen – Artikeln waren Bezüge zu starken, auch negativen Emotionen wie Wut oder Angst eher keine Klick-Garanten. Insgesamt gab es also die als „Negativity Bias“ bezeichnete Tendenz, auf schlechte Nachrichten zu fokussieren, sogar beim Publikum von Upworthy – immerhin auch eine Plattform, die sich selbst einen Fokus auf positive Berichterstattung attestiert.

Und es gibt weitere Hinweise darauf, dass schlechte Nachrichten gewissermaßen gegen den erklärten Willen des Publikums erfolgreich sind: Für das Future-Blog der BBC befasste sich Tom Stafford 2014 mit der Frage, woher die vielen schlechten Nachrichten in den Medien kommen. Dabei stützt er sich vor allem auf eine Untersuchung von Marc Trussler und Stuart Soroka aus dem gleichen Jahr. Für ihr Experiment legten die beiden Forscher ihre teilnehmenden Freiwilligen ein wenig herein: Um Verzerrungen durch soziale Erwünschtheit zu vermeiden, ließen sie ihre Probandinnen und Probanden in dem Glauben, Auswahl und Lesen von Nachrichtentexten auf einer Website diene lediglich der Kalibrierung einer Eye-Tracking-Software für ein folgendes Experiment. Im Anschluss an die Lesephase und das – nur vorgespielte – Eye-Tracking-Experiment wurden dann noch die Nachrichten-Wünsche abgefragt: Die gleichen Menschen, die vorwiegend negative Nachrichten gelesen hatten, sprachen sich hier für weniger schlechte Nachrichten in den Medien aus.

Negativity Bias: Der Mensch scheint auf schlechte Nachrichten programmiert

Doch wieso haben Menschen eine Vorliebe für Themen, die traurig oder schlecht gelaunt machen und die sie sogar nach eigener Aussage nicht konsumieren möchten? Womöglich entspringt das Verhalten schlicht einer evolutionär bedingten „Vorliebe“ für das eigene Überleben: Das menschliche Hirn scheint stärker auf die Wahrnehmung negativer oder bedrohlicher Abweichungen von der Norm trainiert zu sein, weil solche Gefahren eben eine besonders schnelle Reaktion erfordern. Die gleichen Mechanismen, die uns eine kleine Chance gegen herumstreifende Tiger gaben, lassen uns heute auch nachrichtlich vermittelte Bedrohungen besonders schnell und deutlich erfassen – das Bild mit dem Raubtier entstammt einem Aufsatz von Pamela Shoemaker von 1996. Daneben weichen besonders schlechte Nachrichten wohl weiter von der Wahrnehmung der eigenen Situation ab als besonders gute Nachrichten, und bekommen auch deswegen mehr Aufmerksamkeit.

Trussler und Soroka weisen darauf hin, dass uns der eigene Negativity Bias wahrscheinlich nicht bewusst ist – eine interessante Parallele zur Unterscheidung absichtlicher und versehentlicher News Avoidance, wie sie Morten Skovsgaard und Kim Andersen 2019 beschrieben haben. Ebenso wie den vermeintlichen Eye-Tracking-Probanden ihre Präferenz für Negatives nicht bewusst war, grenzen sich nicht alle „News Avoider“ als Folge einer bewussten Entscheidung absichtlich von den Nachrichten ab. Den unabsichtlichen Nachrichtenvermeidern passiert es einfach, dass sie – im Strom anderer, auf ihre Interessen zugeschnittener Medienangebote – die Nachrichten nicht mehr beachten. Bewusste Nachrichtenvermeidung wird zwar auch als mögliche Folge von der Mehrheit abweichender Überzeugungen gesehen, die Befragungsergebnisse aus dem aktuellen Digital News Report des Reuters Institute deuten jedoch zumindest teilweise auf Motive wie den Schutz der eigenen mentalen Gesundheit in Zeiten multipler und gefühlt naher Krisen hin: Der Nachrichtenkonsum wird eher nicht mehr ausgehalten als nicht mehr gewollt.

Können Medien also gezielt und mit Aussicht auf Erfolg gute Nachrichten an den Mann oder die Frau bringen? Eine wahrnehmungspsychologisch begründete Präferenz für das Negative wird sicherlich nicht plötzlich verschwinden: Wo nur Zugriffszahlen und Quote interessieren, bleiben „bad news“ also wohl reichweitenbezogene „good news“. Aber wahrscheinlich gibt es eine Schnittmenge von Menschen, die ihre unbewusste Vorliebe für schlechte Nachrichten mit einer bewussten Vermeidung des Nachrichtenkonsums per se bekämpfen – hier könnten gezielt positiv gerahmte Nachrichten ein Weg sein, zurückgehende Nachrichtennutzung zu bekämpfen. Und das wäre ja auch eine gute Nachricht.

Literaturhinweise (offline, alle übrigen sind im Text verlinkt)

Galtung, J., & Ruge, M. H. (1965). The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Norwegian Newspapers. Journal of Peace Research, 2(1), 64-91.

Shoemaker, P. J. (1996). Hardwired for News: Using Biological and Cultural Evolution to Explain the Surveillance Function. Journal of Communication, 46(3), 32-47.

 

 

 

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