Es gibt nichts Schlimmeres für Journalisten, als wenn etwas passiert.
Nehmen wir zum Beispiel die Bunte. Die Bunte findet es mitteilenswert, dass in Japan Probleme bestehen. Darum fragt die Bunte die Prominenten dieser Welt, was sie über die Probleme in Japan denken — von Claudia Kleinert (41, Wetterfee) bis Udo Jürgens (76, Entertainer).
Udo Jürgens zum Beispiel denkt: „Es ist nicht fünf vor, sondern fünf nach zwölf.“ Gut gesagt. Die Neue Zürcher Zeitung hingegen hat keine Prominenten befragt, sondern einen Redaktor in die Außenquartiere von Bengasi entsandt. Der Tages-Anzeiger wiederum beschreibt, wie sich die französische Atommacht seit Charles de Gaulle entwickelt hat. Der Stern bringt 32 Seiten Bilder, alles Doppelseiten, bevor der erste Textabschnitt über das Cäsium beginnt.
Wem diese Einleitung zu dieser Kolumne etwas wirr erscheint, hat wohl Recht. Es ist ein bisschen wirr, aber es zeigt einen Mechanismus der Medienwelt. In der Medienwelt bekommt man nur dann Probleme, wenn etwas los ist.
Wir wollen ein Vorurteil korrigieren. Das Vorurteil sagt, dass es gut ist, wenn etwas passiert. Das Vorurteil ist falsch. Redaktionen lieben es nicht, wenn etwas passiert auf dieser Welt. Sie bevorzugen den Zustand, dass nichts passiert auf dieser Welt.
Die Erklärung ist einfach. Nur wenn nichts passiert auf dieser Welt, können Redaktionen zeigen, wie gut sie sind. Wenn nichts passiert, diktiert nicht die fremdbestimmte Aktualität das mediale Angebot, sondern die selbstbestimmte Kreativität der Redaktion. Wenn nichts passiert, kann man zum Beispiel einen gut recherchierten Artikel über die Frauenquote in den Banken-Chefetagen bringen. Man kann auch ein gut gemachtes Interview mit dem neuen Flüchtlingsbeauftragten für die Kosovo-Albaner bringen.
Das ist ok, denn die anderen Redaktionen haben keinen gut recherchierten Artikel über die Frauenquote in den Banken-Chefetagen und auch kein gut gemachtes Interview mit dem neuen Flüchtlingsbeauftragten für die Kosovo-Albaner. Man hat also einen Konkurrenzvorteil.
Wenn aber die externe Aktualität und nicht die interne Kreativität das Angebot bestimmt, dann hat man ein Problem. Denn die Aktualität ist der Feind der Kreativität.
Das Problem besteht darin, dass das Publikum schon alles weiß. In Zeiten der Aktualität nutzen die Medienkonsumenten intensiv Fernsehen, Radio und Internet, und sie nutzen es tagsüber und fast ohne Unterbruch. Sie schalten sich zum Beispiel auf CNN und NHK und auf BBC World ein, weil sie wissen wollen, wie es den Japanern und den Libyern geht. Rund um den explodierenden Reaktor in Japan und das implodierende Regime in Libyen sind die Leser glänzend informiert. Sie sind glänzend informiert, weil es sie interessiert.
Es gibt nichts Schlimmeres für Redaktionen als glänzend informierte und interessierte Leser. Denen nämlich hat man dann aus eigenen Quellen kaum mehr etwas zu bieten, denn die Leser wissen es schon. Sie haben sich mehrmals pro Stunde auf CNN und NHK und BBC World und ins Internet eingeschaltet.
Nun beginnt auf den Redaktionen das große Suchen. Man sucht, was man jemandem bieten könnte, der schon alles weiß. Vielleicht, so hofft man auf den Redaktionen, findet man einen Nahost-Experten oder einen Radiologen, der etwas sagt, was noch nicht ausdrücklich so gesagt ist. Meistens hat man keine Chance. Aktualität ist der böseste Feind der gedruckten Presse. Man kann nur noch in Ausweichmanöver flüchten.
Wenn dann gar nichts mehr geht und auch die letzten Nahost-Experten und Radiologen ausgeschossen sind, nimmt man halt eine Wetterfee. Die Wetterfee (41) sagt dann, sie fühle sich nicht „akut bedroht“. Das finden wir auch.
Erstveröffentlichung: Weltwoche Nr. 12 / 2011
Schlagwörter:Aktualität, Bunte, Experten, Japan, Libyen, NZZ, Prominente, Tages-Anzeiger