Draußen ist es novembergrau. Darum langweilen wir unsere Leser mit ein paar grauen Statistiken.
Es müssen noch goldene Zeiten gewesen sein, damals, Mitte der siebziger Jahre. 1975 verbrachte der Medienkonsument täglich 50 Minuten mit Zeitungslesen. Heute sind es noch 27 Minuten am Tag.
Für mathematisch interessierte Leser können wir damit einen hübschen Vergleich anstellen. Wir multiplizieren die individuelle Lesedauer mit der Bevölkerungszahl. Im Jahre 1975 zählte die Schweiz 6,2 Millionen Einwohner. Heute sind es 7,8 Millionen. Im Jahre 1975 wurde also, Kinder inbegriffen, in der Schweiz täglich 5,2 Millionen Stunden Zeitung gelesen. Heute sind es noch 3,7 Millionen Stunden am Tag.
Die Lesezeit der Zeitungen zerfällt. Im Kapitalismus ist sinkende Nutzung stets ein Signal für Qualitätsverlust. Es ist sehr selten in der Wirtschaftsgeschichte, dass Produkte besser werden und der Markt sie schlechter nachfragt.
Ökonomisch gefährliche Entwicklung
Obschon die Lesedauer der Zeitungen in sich zusammenfiel, nahm die Mediennutzung generell zu. Vor dreißig Jahren setzten die Schweizer fünf Stunden am Tag für den Medienkonsum ein. Heute sind es knapp sieben Stunden. Das Wachstum erklärt sich zuerst einmal durch den wachsenden TV-Konsum. Die tägliche Sehdauer stieg seit den achtziger Jahren von 120 Minuten auf heute 160 Minuten. Dazu kam neu das Internet, das von 0 auf inzwischen über 90 Minuten am Tag hochging. Das Radio blieb bei etwa 150 Minuten pro Tag ziemlich konstant.
Nun kann man einwenden, die Lesedauer sei nicht so sehr gesunken, weil auch im Internet gelesen werde. Das ist richtig, aber nur zum Teil. Die Internet-Nutzung wird stark von den jüngeren Jahrgängen getrieben. Die aber investieren ihre Zeit im Netz weniger in kluge Artikel auf den Zeitungs-Sites als vielmehr in Social Networks, Chats, Mails und Games.
Bevor wir zur Konklusion kommen, machen wir für unsere mathematisch interessierten Leser einen zweiten hübschen Vergleich. Wir vergleichen, wie sich die Lesedauer einer Zeitung seit 1975 verändert hat. Wir nehmen dazu den größten regionalen Titel des Landes, den Tages-Anzeiger. 1975 betrug seine Leserzahl 590 000. Heute liegt sie bei 470 000.
Im Jahre 1975 wurde der Tages-Anzeiger von seiner Leserschaft jeden Tag während 490 000 Stunden gelesen. Heute sind es noch 210 000 Stunden. Es ist darum kurios, dass Tamedia-Präsident Pietro Supino trotz dieses schrecklichen Niedergangs eine steigende Qualität in seinem Gewerbe proklamiert. Aha. Da können wir nur bedächtig den Kopf hin und her wiegen und uns unsere Sache denken.
Was heißt das nun? Es ist eine ökonomisch gefährliche Entwicklung. Geringere Lesedauer, kumuliert mit sinkenden Leserzahlen, bedeutet tiefere Aufmerksamkeit – im Quadrat. Aufmerksamkeit ist das Kriterium der Werbung. Wenn sie sieht, dass ein Produkt von deutlich weniger Leuten gekauft und erst noch weniger intensiv genutzt wird, dann wendet sie sich ab. Genau das geschieht.
In früheren Zeiten waren Verleger stets auf ein Monopol aus. Ein Monopol konnte die Preise diktieren. Die Werbebranche schluckte die Preise, weil es wenig Alternativen gab. Das ist vorbei. Den Monopolzeitungen bricht nun das Publikum weg, und auch die verbleibenden Leser durchblättern das Blatt nur noch husch, husch. Monopole sind darum heute nur noch Monopölchen. Die Werbung kann sie getrost vergessen und auf stärkere Zielgruppen in TV, Radio und Internet setzen.
Die erste Tragödie der Zeitungsverleger ist, dass sie immer weniger Leser haben. Die zweite Tragödie ist, dass selbst die restlichen Leser immer desinteressierter werden. In wenigen Jahren nur sind die Papierkönige zu Papiertigern geworden.
Erstveröffentlichung: Weltwoche Nr. 45/2010
Schlagwörter:Internet, Mediennutzung, Radio, Schweiz, Statistik, Tages-Anzeiger, TV, Zeitung