New York Times: Angst vor Intriganten

10. September 2008 • Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Schweizer Journalist 8 + 9 / 08
Anonyme Quellen sind “das Lebensblut und das Verderben des Journalismus” – so jedenfalls sieht es Clark Hoyt von der New York Times.

Als Public Editor ist er dafür zuständig, Leserbeschwerden aufzugreifen und, wenn nötig, Fehlverhalten der eigenen Redaktion aufzuklären.

Einerseits ist Quellenschutz unverzichtbar, wenn der Journalismus seine Wächterrolle in der Demokratie ausfüllen soll. Journalisten kommen an bestimmte, heikle Informationen nur heran, wenn sie die Möglichkeit haben, ihre Informanten nicht preiszugeben – sei es um sie vor Lebensgefahr, sei es, um sie vor Jobverlust und finanziellen Nachteilen zu schützen, die mit dem Ausplaudern korrupter und krimineller Aktivitäten einhergehen können. Anders hätte zum Beispiel die New York Times niemals aufdecken können, dass die Regierung Bush illegal den internationalen Telefonverkehr überwacht hat.

Die andere Seite der Medaille: Wenn eine Quelle im Dunkel der Anonymität verbleiben kann, lädt dies angesichts des beinharten Wettbewerbs im „Scoops“ dazu ein, Intrigen zu spinnen. Journalisten – und mit ihnen ihre Publika – werden auf falsche Fährten geführt, Behauptungen oder Gerüchte lassen sich streuen, die nicht hinreichend belegt sind. Der Bericht über die aussereheliche Affäre von John McCain war so ein Fall, als sich die New York Times instrumentalisieren liess. Er lieferte wohl den Anlass dafür, dass Hoyt an der Columbia University eine Untersuchung in Auftrag gab. Studenten sollten wissenschaftlich analysieren, wie sich die Berichterstattung verändert hat, seit die Chefredaktion vor ein paar Jahren Richtlinien verabschiedete, die einen strengeren Umgang mit anonymen Quellen vorsahen.

Das überraschende Ergebnis: Die Vorgaben haben tatsächlich etwas bewirkt; auch ein grosser, schwerfälliger Tanker mit über 1200 Redakteuren lässt sich also manövrieren. Anonyme Quellen wurden von der Redaktion nur noch halb so oft genutzt wie zuvor. Vor allem auf der ersten Seite, um die sich die Chefredaktion besonders intensiv kümmert, tauchten sie sehr viel seltener auf.

Im Detail allerdings lässt sich indes weiterhin vieles nachbessern. Was die jungen Forscher monierten, signalisiert auch für andere Redaktionen Handlungsbedarf:

– 80 Prozent der anonymen Quellen wurden den Lesern „nicht angemessen beschrieben“ („not adequately described to readers“); es blieb also unklar, weshalb Quellenschutz gewährt wurde und „warum die befragten Quellen wissen können, was sie zu wissen vorgeben“. („how they know what they know“).

– Häufiger als früher wurde anonymen Quellen die Gelegenheit eingeräumt, Meinungen zu äussern, obschon die Regelung genau dies unterbinden sollte.

Die Studenten erhielten übrigens Gelegenheit, ihre Erkenntnisse dem Chefredaktor Bill Keller und der Stellvertreterin und Nachrichtenchefin Jill Abramson vorzustellen – eine Form des Forschungstransfers, wie sie viel zu selten vorkommt.

Quelle: Clark Hoyt, Culling the Anonymous Sources, in : New York Times v. 8.6.08 http://www.nytimes.com/2008/06/08/opinion/08pubed.html

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