Wenn man den Anfang eines Artikels liest, dann weiß man häufig sehr genau, was dann kommt. Das gilt besonders für Artikel, die in der Ich-Form geschrieben sind.
Was kommt in einem Artikel, der so beginnt: „Für mich ist es nicht immer angenehm, 29 Jahre alt zu sein, eine Frau und Politikjournalistin“?
Es ist klar, was kommt. Es kommt in der Ich-Form etwas Persönliches, etwas Frauliches, etwas Verletztes, es kommt jedenfalls etwas, das uns zeigt, dass die junge Journalistin (die Frau) sich selber für sehr wichtig im Journalismus hält.
Tatsächlich, genau so begann der Artikel im Stern über den FDP-Spitzenpolitiker Rainer Brüderle. Die Journalistin Laura Himmelreich schrieb sehr persönlich, sehr fraulich und verletzt. Denn Brüderle hatte während eines spätabendlichen Bar-Talks zum Thema Oktoberfest in ihr Dekolleté geblickt und gesagt: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“
Sexismus! Sexismus! Sexismus!
Brüderle sagte es vor über einem Jahr. Über ein Jahr brauchte also die Stern-Journalistin, bis ihr bewusst war, wie verletzt ihre 29-jährige Fraulichkeit war.
Egal. Seit einer Woche wogt nun ein gewaltiger Shitstorm rund um Brüderles Dirndl-Affäre. Sämtliche wohlfeilen Entrüstungsexpertinnen von Gertrud Höhler bis Alice Schwarzer schreien auf. Auf Twitter bricht die Sexismus-Debatte – #aufschrei – alle Rekorde. Die Medien sind randvoll davon.
Der Stern hat mit der Geschichte über Brüderles Herrenwitze an der Bar eine letzte Schranke eingerissen. Bisher war es immer so, dass das Verhältnis von Journalisten zu Politikern vor und nach Einbruch der Dunkelheit unterschiedlich war. Vor Einbruch der Dunkelheit waren Politiker öffentlich. Nach Einbruch der Dunkelheit waren Politiker privat.
Nach Einbruch der Dunkelheit, an der Bar, durften sich Politiker auch mal daneben benehmen. Sie durften ein paar anzügliche Witze erzählen und sich ein paar sexistische Kalauer erlauben. Weiter nicht schlimm. Es wäre keinem Journalisten und keiner Journalistin eingefallen, jemals darüber zu schreiben.
Es ist lange her, aber ich kann mich noch erinnern. Als ich in jungen Jahren Korrespondent im Bundeshaus war, trafen sich die Politiker und wir Journalisten abends an der „Bellevue“-Bar. Die Gespräche konnten reichlich deftig sein. Bemerkungen von Parlamentariern an die anwesenden Journalistinnen konnten deutlich näher bei der Gürtellinie als bei der Dirndl-Bluse liegen.
Sexismus! Sexismus! Sexismus! Aber es wäre uns damals nie eingefallen, über solch persönliche Ausrutscher zu schreiben.
Heute schreiben sie spaltenweise, wenn einer einen missratenen Dirndl-Witz reißt. Die meisten Journalisten sind sich inzwischen einig, dass öffentliche Figuren ein schwindendes Recht an Privatem haben.
In Großbritannien war das immer schon so. Englische Medien kennen keine Privatsphäre. Die Liste von Politikern, die bei einem Seitensprung erwischt wurden, ist seitenlang. Manchmal staunten allerdings selbst die abgebrühten Briten, als etwa eine Affäre der 60-jährigen Abgeordneten Iris Robinson mit einem 19-Jährigen ruchbar wurde. Häufig waren es andere Politiker, die ihre Kollegen denunzierten.
Es ist davon auszugehen, dass dieser Stil auch bei uns in der Schweiz Einzug halten wird. Eine Sexismus-Debatte ist zu verlockend, um ihr widerstehen zu können. SP-Ständerätin Anita Fetz, die grüne Nationalrätin Regula Rytz und FDP-Generalsekretärin Claudine Esseiva haben unseren Journalisten bereits versichert, auch sie würden Politiker kennen, die sich an Herrenwitzen à la Brüderle vergnügten.
Es war eine Aufforderung zur Medienjagd.
Erstveröffentlichung: Weltwoche vom 30. Januar2013
Bildquelle: Michaela Schöllhorn / pixelio.de
Schlagwörter:Journalistin, Laura Himmelreich, Privatsphäre, Rainer Brüderle, Schweiz, Sexismus, Stern