Neue Zürcher Zeitung, 25. April 2003
Die US-Wirtschaftspresse im New-Economy-Boom
Haben die Medien den Börsenboom verstärkt, bevor die Spekulationsblase geplatzt ist, oder haben sie frühzeitig vor Übertreibungen und vor allem vor unseriösen Bilanzierungspraktiken gewarnt? Die «American Journalism Review» («AJR», März 2003) hat jetzt in einer gründlichen Rückschau der US-Wirtschaftspresse bescheinigt, dass sie eher prozyklisch gewirkt hat, als dass sie ihrer Rolle als Wachhund gerecht geworden wäre. Anderseits arbeitet das Fachblatt aber auch heraus, dass es immer wieder kritische Einzelstimmen gegeben habe, die jedoch im kollektiven Rausch(en) untergegangen sind.
Gedächtnisloser Journalismus
Das Verblüffende an der Analyse ist, wie «gedächtnislos» der Journalismus arbeitet – und wie wenig trotz ausgeklügelten elektronischen Archiven offenbar selbst hoch angesehene Wirtschaftstitel ihre eigenen Recherche-Erkenntnisse nutzen. Am Beispiel von «Wall Street Journal» und «Business Week», aber auch der «Washington Post» zeigt «AJR», dass es in den Boomjahren 1997 und 1998 immer wieder «Weckrufe» gegeben habe, die lange vor den Enron- und Tyco- Skandalen vor Betrug und unsauberen Buchhaltungstricks warnten – nur sei eben «niemand aufgewacht»: «Wer die Berichterstattung des letzten halben Jahrzehnts analysiert, ist überrascht, was zumindest einige Reporter alles ausgegraben haben. Aber sogar innerhalb ihrer eigenen Redaktionen gingen diese Einsichten in einer Kakophonie naiver Berichterstattung darüber unter, wie ‹gesund› das System sei, dass man Finanzanalytikern und Wirtschaftsprüfern im Prinzip vertrauen könne und dass der Boom auf immer und ewig dauern werde.» Das Blatt «Fortune» habe im Frühjahr 2001 eine der ersten skeptischen Geschichten über Enron publiziert – dann aber acht Monate später den Enron-Chef als «einen der smartesten Leute, die es gibt», bezeichnet.
Insbesondere durch starke Personalisierung und durch leichtfertige Rankings hätten die Medien zum Desaster beigetragen. Während etwa «Business Week» 1981 ein einziges Mal eine Titelgeschichte über den Geschäftsführer eines amerikanischen Grossunternehmens gebracht habe, seien es im Jahr 2000 bereits 18 solcher «cover stories» gewesen. Unter von «Business Week» glorifizierten «25 Top Managers of the Year» fänden sich ebenso wie auf der «Fortune»- Liste «The World's Most Admired Companies» immer wieder Namen, die bald darauf entweder wegen Missmanagement (Cisco und Lucent) oder sogar wegen krimineller Vergehen (Tyco, Enron, WorldCom) am Pranger standen. Vor Enron- Spitzenmanagern hätten Wirtschaftsmagazine «noch Stunden vor dem Bankrott bewundernd mit dem Schwanz gewedelt».
Kollektive Befangenheit
Ähnlich hätten vor allem Fernsehsender auch solchen Analytikern zu medienwirksamen Auftritten als Börsengurus verholfen, die in der Branche bereits bekannt dafür waren, dass sie in Insidergeschäfte verwickelt waren und öffentlich Aktien zum Kauf empfahlen, die sie in E-Mails an private Freunde als «Schrott» deklariert hatten. In den neunziger Jahren sei es im Wirtschaftsjournalismus «Standardpraxis» gewesen, Empfehlungen von Analytikern weiterzuverbreiten – ohne zu klären, inwieweit deren Eigeninteressen im Spiel waren. Im Rückblick, so fasst «AJR» ernüchtert zusammen, sei das alles «kaum erklärbar». Die US-Wirtschaftspresse «scheint jeden Tag neu geboren». Der «AJR»-Report deckt sich in erstaunlichem Ausmass mit den Befunden von Kommunikationswissenschaftern wie Hans Mathias Kepplinger, die am Beispiel ganz anderer Themen gezeigt haben, wie sehr Journalisten dem Herdentrieb folgen und wie leicht sie damit Opfer «kollektiver Befangenheit» werden – statt über die realen Verhältnisse und Entwicklungen «aufzuklären».