Wachsende Furcht trotz sinkender Gefahr

21. Januar 2005 • Ressorts • von

Neue Zürcher Zeitung, 21. Januar 2005

Die Kriminalität und die Medienberichte
Zwischen der Kriminalitätsstatistik und der öffentlichen Wahrnehmung von Delikten gibt es eine Kluft. Trotz sinkenden Fallzahlen herrscht die Meinung, dass die Verbrechen zunehmen. Ein Grund dafür dürfte die Art der Berichterstattung sein.

Fragt man die Deutschen nach der Entwicklung der Kriminalität in ihrem Land, so vermuten sie mehrheitlich einen dramatischen Anstieg der Delikte während der letzten zehn Jahre – seien das Mord oder Körperverletzung, Einbrüche oder Autodiebstähle. Dies ist das Ergebnis einer repräsentativen Befragung von 2000 Bürgern, die das Institut TNS Infratest 2004 durchgeführt hat. Die polizeiliche Kriminalstatistik spricht dagegen eine ganz andere Sprache: Wohnungseinbrüche und Banküberfälle sind seit 1993 um etwa 45 Prozent zurückgegangen, Morde haben um 41 Prozent abgenommen und Autodiebstähle sogar um 70 Prozent. Zugleich ist die polizeiliche Aufklärungsquote angestiegen, von etwa 44 auf 53 Prozent.

Christian Pfeiffer, der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, und seine Mitarbeiter Michael Windzio und Matthias Kleimann haben diese Daten zusammengetragen und im «Medien-Tenor Forschungsbericht» (Nr. 148 / 4. Quartal 2004) gegenübergestellt. Sie werfen die Frage auf, wie es zu dieser Kluft zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Kriminalitätsentwicklung kommt. Die Antwort ist naheliegend: «Die Frage, ob die Zahl der Straftaten zunimmt oder rückläufig ist, entzieht sich weitgehend unserer persönlichen Wahrnehmung.» Was wir über Kriminalität erfahren, erfahren wir in aller Regel aus den Medien.

Kriminalität hat für Journalisten einen hohen Nachrichtenwert. In der Konkurrenz um Auflagen und Einschaltquoten wird das gedruckt und gesendet, was am meisten Aufmerksamkeit beim Publikum verheisst. In den ersten 18 Jahren des Privatfernsehens, also von 1985 bis 2003, hat sich, so die Studie, der Anteil von Berichten über Kriminalität am Gesamtprogramm der fünf grossen Fernsehanbieter in Deutschland (ARD, ZDF, RTL, Sat 1, Pro Sieben) von 3,5 Prozent auf 11 Prozent erhöht. Darüber hinaus gebe es eine «Verschiebung der Thematisierung»: Statt in fiktionalen Formaten werde Kriminalität immer häufiger in Gerichtsshows und Doku-Soaps präsentiert – also in Formaten, «die dem Rezipienten suggerieren, ein wirklichkeitsnahes Bild von Kriminalität und Kriminalitätsverfolgung zu vermitteln». Ausserdem zitieren die Forscher eine Studie von Philomen Schönhagen (Universität Freiburg i. Ü.) und Hans-Bernd Brosius (Universität München), gemäss der die Medien Bagatelldelikten immer weniger Aufmerksamkeit schenkten, dagegen spektakulären Gewaltdelikten anteilig mehr Raum gäben.

Pfeiffer und seine Mitarbeiter befürchten – vermutlich zu Recht – Auswirkungen dieser verzerrten Wahrnehmung von Kriminalität auf die Politik und die Rechtsprechung. Nicht nur die Bevölkerung, auch gerade jüngere Juristen sprächen sich für mehr Strafhärte aus. Sie sähen den «Sinn von Strafen immer weniger in der Resozialisierung des Täters» und bevorzugten stattdessen «harte Tatvergeltung und eine Verschärfung des Strafrechts». Auch eine Fehlallokation von Ressourcen befürchten die Autoren: Unter «dem Einfluss einer die Kriminalität dramatisierenden Medienwelt» sei die «Notwendigkeit einer Kosten-Nutzen-Analyse» im Strafvollzug in den Hintergrund getreten. Aufgrund verschärfter Strafen habe innerhalb von zwölf Jahren die Zahl der Strafgefangenen in den alten Bundesländern von rund 37 500 auf 51 999 zugenommen – das entspricht einer Zunahme von mehr als 38 Prozent. Bei Tagessätzen von 80 Euro hätten sich im selben Zeitraum die Haftkosten um 232 Millionen Euro erhöht. Politiker, die Wahlen gewinnen wollen, profilierten sich «mit populistischen Forderungen als Kämpfer gegen das Böse».

Da mag es zwar unter den Journalisten noch kritische Geister geben, die mit dem Finger auf die Rattenfänger zeigen. Allerdings scheinen eben die Medien – vor allem die privaten Fernsehanbieter, die Öffentlichrechtlichen ziehen allerdings nach – mit ihrer Kriminalitätsberichterstattung dieser Art von politischem Populismus den Boden zu bereiten. Es ist wohl an der Zeit, dass Journalisten, und zwar nicht nur Polizeireporter, sondern auch die Medienverantwortlichen, die den nötigen Platz für die aufgebauschten Kriminalitätsberichte verfügbar machen, über die gesellschaftlichen Folgen ihres Tuns nachdenken – so wie sie das von Politikern und Wirtschaftsführern verlangen.

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