Wie Wissenschaft mediatisiert wird

25. Juli 2003 • Ressorts • von

Neue Zürcher Zeitung, 25. Juli 2003

Erheblicher Umbruch in der Wissenschaftskommunikation
Der Umbruch in der Wissenschaftskommunikation ist womöglich heftiger, als ihn die unmittelbar Beteiligten wahrnehmen. Die Triebkräfte sind überwiegend ökonomischer Natur. Die Gewichte verschieben sich vom herkömmlichem Wissenschaftsjournalismus zu einem Nutzwertjournalismus, der in jedem Ressort kontextabhängig auf Wissenschafter als Quellen zurückgreift. Der Einfluss der Wissenschafts-PR nimmt zu.

Die Wissenschaftskommunikation befindet sich im Umbruch, ja geradezu in Turbulenzen. Selten wurde uns das so klar vor Augen geführt wie am zweiten Weihnachtsfeiertag 2002: Eine von einem ehemaligen Taxifahrer gegründete Sekte, deren Anhänger an Ufos glauben, liess die Geburt des ersten Klon-Babys namens Eva verkünden. Es gab keine Beweise, nicht einmal eine Foto. Trotzdem machte die Meldung weltweit Schlagzeilen – oder sagen wir besser, das Gerücht, das mit schamloser PR-Professionalität zeitgenau gestreut worden war. Das Klon-Baby war eine Hauptnachricht – nicht weil es sich um ein weltbewegendes Faktum handelte, sondern weil, wie der Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» («FAZ»), Frank Schirrmacher, so schön kommentierte, «die Botschaft wirklich stimmen könnte».

News, die stimmen könnten

Es reicht inzwischen schon, dass etwas stimmen könnte, damit es als Topnachricht von den Topmedien rund um den Globus gejagt wird! Aber es kommt noch schlimmer: Es war kein amerikanisches Tabloidblatt, das auf Seite 3 über mehrere Spalten hinweg ein Interview mit dem Sektenchef der Raelianer brachte, der an seine Zeugung durch Ausserirdische glaubt – sondern Deutschlands Qualitätsblatt, die «FAZ». Zum Vergleich: Für ein Interview mit dem Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaft wurde zwei Monate zuvor in derselben Zeitung nicht einmal halb so viel Platz freigeräumt.

Zum Umbruch gehören indes nicht nur Seriositätsverlust und Sensationsmache. Die Wissenschaftsjournalisten sind zahlreicher geworden, und sie sind besser ausgebildet denn je. Sie werden von PR-Leuten mit Nachrichten versorgt, die ebenfalls zahlreicher und professioneller geworden sind. Und das Feld der Wissenschaftskommunikation ist besser erforscht als vor 20 Jahren. Vor allem Winfried Göpfert, selbst Wissenschaftsjournalist und seit den achtziger Jahren an der FU Berlin und damit in Deutschland der erste Professor für dieses enge Fachgebiet, sowie der Zürcher Kommunikationswissenschafter Michael Schanne haben Bestandsaufnahmen vorgelegt. Sie werden im Folgenden referiert und zugleich neu interpretiert – im Lichte einer «Ökonomik der Wissenschaftskommunikation».

Ressort- oder themenbezogen?

Laut Göpfert und Schanne fristet der «klassische» Wissenschaftsjournalismus nach wie vor ein Nischendasein. Diese Form der Wissenschaftsberichterstattung, die in einem eigenständigen Ressort auf eigenen Seiten oder Programmplätzen betrieben wird und sich auf Naturwissenschaften, Technik und Medizin konzentriert, ist marginal geblieben. Ihr Anteil am journalistischen Gesamtangebot schwankt zwischen drei und fünf Prozent. Für gründlichen, systematischen Wissenschaftsjournalismus war und ist also offenbar nur in ganz wenigen, eher elitären Medien Platz.

Im massenattraktiven Segment hat indes spürbar an Bedeutung gewonnen, was Göpfert kontextorientierte Wissenschaftsberichterstattung nennt: Wissenschafter werden immer dann als Quellen und Experten herangezogen, wenn zu einem Thema, das sich in der öffentlichen Agenda befindet, eine wissenschaftliche Erklärung oder Sichtweise beigesteuert werden soll. In diesem Bereich haben sich lebendigere Formen durchgesetzt, vor allem eine starke Personalisierung. Wissenschaftsjournalismus wird immer stärker ergänzt, ja tendenziell abgelöst von Wissenschaftsjournalismus.

Andere Nachrichtenauswahl . . .

Thematisch sind Medizin und Gesundheit in den letzten 20 Jahren noch stärker in den Vordergrund gerückt. Die Berichterstattung über Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungspolitik, an der der Wissenschaftsbetrieb selbst besonderes Interesse haben müsste, ist dagegen rückläufig. Ähnlich ist das Räsonnement über Ethik in der Wissenschaft, über Wissenschaftsforschung und über Wissenschaftskommunikation eine vernachlässigbare Grösse – mit einem Anteil von 2 Prozent am Wissenschaftsjournalismus und damit von etwa 0,08 Prozent an der gesamten journalistischen Berichterstattung.

Die Entwicklung lässt sich dahingehend deuten, dass die Medienlogik immer stärker die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Medien prägt. Nachrichtenwerte – also: Verwertungsinteressen der Medien – bestimmen, welche Wissenschaftsthemen öffentliche Resonanz finden. Die Themen- und Nachrichtenauswahl folgt immer weniger der Logik des Wissenschaftssystems. Denn auch beim Dauerbrenner Gesundheit sind es ja nicht etwa langweilige Themen wie Kopfschmerzforschung, Zahnersatz oder Orthopädie, denen die Medien Aufmerksamkeit schenken – sondern Fragen von Leben und Tod: zum Beispiel Krebsforschung, BSE und Aids.

. . . und Verarbeitung

In ihrer vollen Tragweite wird die ökonomische Dimension der Nachrichtenauswahl jedoch erst begreifbar, wenn wir das Zuliefersystem für den Wissenschaftsjournalismus analysieren. Im Vergleich zum Kolportagejournalismus der Yellow Press rechnen sich eigenständige, aufwendig recherchierte Berichte kaum. Es ist weitaus billiger und zugleich einträglicher, in einem Massenpublikum Gerüchte über den Prinzen von Hannover oder auch über ein Klon-Baby zu verbreiten, als für eine kleine, elitäre Zielgruppe in Forschungslabors exklusive Geschichten zu erarbeiten. Auch deshalb hat guter, gründlicher Wissenschaftsjournalismus Seltenheitswert. Die Redaktionen können gar nicht anders – sie müssen überwiegend angeliefertes Material weiterverarbeiten und mehrfach verwerten.

Wissenschaftsjournalismus ist damit von einigen wenigen und obendrein hintereinander geschalteten Quellen abhängig. Als die wichtigsten genuinen Nachrichtenlieferanten dienen eine Handvoll angesehener Fachzeitschriften. 80 Prozent aller Wissenschaftsberichte nehmen auf eine einzige Quelle Bezug – besonders häufig auf einen Artikel, der etwa in «Science», «Nature», «New Scientist» oder im «New England Journal of Medicine» veröffentlicht wurde. Das zweite Nadelöhr sind die Nachrichtenagenturen, obschon sie für ihre Schlüsselrolle denkbar schlecht gerüstet sind. Als einzige Agentur in Deutschland verfügt die DPA immerhin über ein kleines Wissenschaftsressort. Es ist laut Auskunft des Chefredaktors inzwischen mit vier Wissenschaftsredaktoren besetzt – immerhin doppelt so viele wie noch vor wenigen Jahren. Die zweit- und drittgrössten Agenturen auf dem deutschen Nachrichtenmarkt, AP und Reuters, kommen ganz ohne Wissenschaftsjournalisten aus. So ist es auch bei der grössten Schweizer Agentur, der SDA.

Wissenschaftsjournalismus ist also in Deutschland stark kartellisiert. Wegen der hohen Produktionskosten gibt es ein Agentur-Oligopol und keinen funktionierenden Markt. Laut Göpfert steuern allein die DPA-Redaktoren etwa die Hälfte der gesamten Wissenschaftsberichte in Deutschland bei. Etwa ein Drittel erscheint mit entsprechender Quellenangabe und ein weiteres Sechstel ohne Hinweis auf die Agentur.

Zusammenspiel mit Informanten

Irgendwo am Anfang des journalistischen Produktionsprozesses steht gleichwohl eine Interaktion zwischen Wissenschafter und Journalist und/oder einem zwischengeschalteten PR-Experten. Wissenschaftsjournalismus ist – in der Sprache des Ökonomen – somit das Ergebnis von Tauschbeziehungen auf Nachrichtenmärkten.

Insgesamt gibt es in Deutschland 1700 Wissenschaftsjournalisten, in der Schweiz sind es gemäss Michael Schanne rund 75 hauptberufliche. Leider wissen wir nicht, wie viele Öffentlichkeitsarbeiter sich mit den Wissenschaften befassen. Zu vermuten ist, dass auch hier der PR-Sektor schneller wächst (bzw. derzeit langsamer schrumpft) als der Wissenschaftsjournalismus. Damit verlagern sich die Gewichte. Was an Wissenschaftsjournalismus publiziert wird, ist immer öfter PR-induziert: das Ergebnis einer Pressemeldung, einer Pressekonferenz oder eines anderweitigen Anstosses von Öffentlichkeitsarbeit statt der Recherche eines Wissenschaftsjournalisten. Ökonomisch betrachtet, haben wir es mit einer zunehmenden «Quersubventionierung» des Journalismus durch Öffentlichkeitsarbeit zu tun.

Die Aufrüstungsdynamik im PR-Sektor hat langfristig und logisch eine Abrüstungsdynamik in den Redaktionen zur Folge. Gerade diesen Prozess erleben wir derzeit beschleunigt. Wo beide gegeneinander gerichteten Entwicklungen in Gang sind, drohen Institutionen und Initiativen ins Abseits öffentlicher Wahrnehmung zu geraten, die keine professionelle Pressearbeit und PR betreiben. Das gilt insbesondere für den Wissenschaftsbetrieb. Für die meisten Wissenschafter und Wissenschaftsinstitutionen ist es offenbar weniger überlebensnotwendig als für Politiker und Markenartikler, das Rampenlicht der Öffentlichkeit zu suchen. Deshalb ist Wissenschafts-PR bisher im Vergleich zur Unternehmenskommunikation und zum politischen Campaigning unterentwickelt geblieben. Es gibt zwischen Unternehmen und Politik einerseits und dem Wissenschaftsbetrieb andererseits ein starkes Gefälle bei der Wahrnehmung, ob und inwieweit PR betrieben werden muss und öffentliche Aufmerksamkeit gar nötig ist.

Womöglich hat der vielbeklagte Niedergang der Universität zumindest auch damit zu tun, dass die Verantwortlichen noch immer nicht begriffen haben, wie wichtig Omnipräsenz in der Öffentlichkeit ist, wenn man bei der Vergabe öffentlicher Mittel nicht zu kurz kommen möchte.

Es sind immer dieselben wenigen Wissenschafter, auf die die Medien zurückgreifen. Auch das ist letztlich ökonomisch erklärbar: Für den durchschnittlichen Redaktor ist es bequemer, bei einem Forscher anzurufen, den er bereits kennt und von dem er weiss, dass er gewandt auftritt, als den wirklich fachlich Zuständigen zu ermitteln. In den Medien reüssieren so wenige Wissenschaftsstars – und das sind keineswegs immer die Starwissenschafter, die unter ihresgleichen höchstes Ansehen geniessen. Gefragt ist in vielen Redaktionen nicht primär wissenschaftliche Kompetenz von Forschern, sondern ihre Medienkompetenz.

Publikum vor Wissenschaft

«Wir wollen nicht der Wissenschaft gerecht werden, sondern den Lesern», sagt der Wissenschaftsredaktor der «Welt», Norbert Lossau – stellvertretend für einen Grossteil seiner Kollegen. Wer das Verhältnis von Journalisten und Wissenschaftern ökonomisch analysiert, wird auch hier ein Fragezeichen setzen und differenzieren: Es liegt jedenfalls nahe, dass Wissenschaftsjournalisten stärker quellenorientiert als publikumsaffin agieren. Anonyme Publika sind für sie weniger relevant als Informanten, mit denen sie häufig oder sogar ständig zu tun haben.

Für solches Verhalten, das Kritiker des Wissenschaftsjournalismus wiederholt konstatiert haben, gibt es eine plausible Deutung: Kooperation, korrekter Umgang, Loyalität, auch Uneigennützigkeit und «Solidarität» üben die meisten Menschen eher in den kleinen sozialen Netzen ihres Nahbereichs. Dass Journalisten zuallererst für ihre Leser, Hörer, Zuschauer oder gar für die Allgemeinheit schlechthin da sind, gehört zur Folklore und zu den Lebenslügen des real existierenden Journalismus.

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