“Wir brauchen kein Büro in Jerusalem”

12. Dezember 2008 • Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung

In den USA schrumpft die Auslandkorrespondenz drastisch.

Mit der Globalisierung wächst der Bedarf nach Wissen über das weltweite Geschehen. In vielen US-Medien verläuft der Trend jedoch gerade umgekehrt: Die Auslandkorrespondenz wird abgebaut.

«Über die Welt Bescheid zu wissen, ist kein Luxus. Es ist eine dringende Notwendigkeit», schrieb kürzlich die Washington Post und begründete dies vor allem mit dem internationalen Engagement der USA: «Unsere Soldaten kämpfen im Irak und in Afghanistan, in Ländern, über die wir nicht genug wussten, als wir sie angriffen.» Aufklärung über das Weltgeschehen verschaffen Auslandkorrespondenten. Nun mehren sich aber die Alarmrufe, dass im Widerspruch zu publizistischen Sonntagsreden ausgerechnet dieses Aufgabenfeld vernachlässigt werde.

Ein kostspieliges Geschäft

In den USA beklagen Medienexperten das «Verschwinden des Auslandkorrespondenten». Zugleich vertreten Verleger offensiv den Rückzug ihrer Zeitungen vom kostspieligen Geschäft der Auslandbüros. So sagte Brian Tierney, der 2006 den Philadelphia Inquirer gekauft hatte, in einem Interview: «Wir brauchen kein Büro in Jerusalem. Was wir brauchen, sind mehr Leute im Büro im südlichen Jersey.» Was in Israel oder im Irak los sei, könne man online mitkriegen.

Dieser Devise scheinen immer mehr US-Zeitungen und Fernsehstationen zu folgen, die auf diese Weise die Kosten von etwa 200 000 Dollar pro Jahr für einen Korrespondenten sparen. Jill Carroll, Reporterin des Christian Science Monitor, hat in einer Studie für das Joan Shorenstein Center der Harvard Universität die Gesamtzahl der Auslandkorrespondenten der US-Zeitungen ermittelt. Danach ist für 2008 von etwa 140 Journalisten auf Auslandposten auszugehen. 2002 sollen es noch 188 gewesen sein. Nicht berücksichtigt ist allerdings das «Wall Street Journal», das über eigene Redaktionen für die Europa- und die Asienausgabe verfügt.

Der Boston Globe hat im Jahr 2007 seine letzten fünf Auslandkorrespondenten eingespart. Bis dato waren zwei im Nahen Osten, einer in Berlin, einer in Bogotá und einer in Johannesburg auf Posten. Seither behilft man sich mit einem Korrespondenten, der in Washington für die Aussenpolitik zuständig ist, mit gelegentlichen Reportereinsätzen im Ausland – und mit den Auslanddiensten der Nachrichtenagenturen sowie von New York Times,Washington-Post und Los Angeles Times.

Kritik an den Nachrichtenagenturen
Chefredaktor Martin Baron sagt im persönlichen Gespräch, ihm sei Auslandberichterstattung wichtig – und so, wie er es sagt, glaubt man es ihm auch. Die internationalen Nachrichten sind in seiner Zeitung dennoch im Vergleich mit Blättern in Europa dünn gesät. Obendrein hat sich Baron kürzlich zusammen mit sieben weiteren Chefredaktoren grosser Regionalzeitungen an die Geschäftsleitung und den Aufsichtsrat von Associated Press (AP) gewandt und sich dort nicht nur über die steigenden Preise für die Agenturleistungen bitter beklagt, sondern auch anklingen lassen, wie wenig man nachvollziehen könne, dass AP ausgerechnet seine Auslandberichterstattung erweitert habe, statt sich um die Berichterstattung aus den Hauptstädten der 50 US-Einzelstaaten angemessen zu kümmern.

Die Agentur ist – wie SDA und DPA – genossenschaftlich organisiert und wird von den Medienunternehmen gemeinsam getragen. Sie verhalte sich aber, und darüber ist Baron verärgert, «wie ein Monopolist». Die Tarifstruktur sei intransparent, die Aufstockung der Auslandberichterstattung gehe am Bedarf vorbei und die Mitglieder würden nicht einmal konsultiert, erbost sich Baron.

Spannend ist, wie kurz angebunden Tom Curley, der Chef von AP, auf Fragen zu diesem Thema reagiert: «Der Markt für internationale Nachrichten wächst. Die Kürzungen der einen eröffnen neue Chancen für andere, darunter auch AP. Zeitungen sind nur ein Segment der Kundschaft von AP.» Er sei sich «keiner Gruppe von Chefredaktoren bewusst, die gegen den Umfang der Auslandberichterstattung» von AP protestiert hätten, bügelt er die Frage ab, obschon es im Frühjahr auf der Jahrestagung der amerikanischen Chefredaktoren und Zeitungsverleger deshalb zu einem offenen Schlagabtausch gekommen war.

Noch abhängiger von den Agenturen
Deutlicher wurde sein Wettbewerber Tom Glocer, der CEO von Thomson Reuters, bei der All-Things-Digital-Konferenz in New York: «Die Zeiten sind bedrohlich für Zeitungen, aber die Nachrichtenagenturen profitieren von den Umwälzungen in der Branche. Solange der Patient nicht stirbt, ist das phantastisch für die Welt der Agenturen. Alle streichen sie ihre Reporterstellen, und so werden sie noch abhängiger von den Nachrichtenagenturen. Und in dieser Klemme müssen sie nun obendrein rund um die Uhr Websites machen, und sie brauchen dafür Videos und Fotos.» Im Einzelfall, so urteilt Rem Rieder von der American Journalism Review, seien viele der Kürzungen sinnvoll. «Kumulativ betrachtet bringen sie einen dramatischen Wandel des Journalismus mit sich – denn über den Einfluss zu berichten, den Amerika auf die Welt ausübt – und umgekehrt die Welt auf Amerika –, ist kein teurer Egotrip, es ist schlicht ein Teil des Jobs.» In der Tat – es dürfte wenige Beispiele geben, an denen sich klarer zeigen lässt, wie individuell rationale Entscheidungen, auf der gesellschaftlichen Ebene aggregiert, törichte, ja gefährliche Folgen haben.

Philip Seib, ein Experte für internationale Berichterstattung an der University of Southern California, spricht vom «stupid American phenomenon». Die Medien hätten versagt. Die Amerikaner seien nicht mehr hinreichend informiert, um Entscheidungen zu treffen. Je stärker die Auslandberichterstattung abgebaut werde, desto weniger weise fielen die politischen Entscheidungen in Washington aus – eine kühne Hypothese, an der bei näherer Betrachtung aber doch eine ganze Menge dran ist: Ranghohe Politiker erfahren bekanntlich vieles aus der Zeitung – und nicht nur von ihren Geheimdiensten und diplomatischen Vertretungen. Wenn in ihren Zeitungen nichts in Erfahrung zu bringen ist, entscheiden sie womöglich nicht nur schlecht informiert, es fehlt ihnen auch jenes kritische Korrektiv sachkompetenter und meinungsmächtiger Kommentatoren, das in der «guten alten Zeit» öffentliche Meinung genannt wurde, obschon es sich eigentlich um die veröffentlichte Meinung einiger weniger handelte. Zugegeben, das war Kommunikation unter gebildeten Eliten, die sich aber durch das Blabla «demokratisierter» Diskurse im Internet nicht ersetzen lässt.

Weniger Auslandberichte auf Titelseiten
In den Berichten des Project for Excellence in Journalism liest man, dass 1977 mehr als ein Viertel (27 Prozent) der Berichterstattung auf den Titelseiten der 16 führenden US-Zeitungen für Auslandnachrichten reserviert gewesen sei. 2008 war es nur noch ein Achtel (13 Prozent). Der Zürcher Sozialwissenschafter Kurt Imhof glaubt, dass die globale Terrorgefahr bis heute nicht in ähnlicher Weise öffentliche Aufmerksamkeit erzeuge, wie dies einst der Kalte Krieg getan habe.

Trotzdem dürfte Seib mit seiner Bewertung überspitzt haben. Die Gruppe der Zeitungen in den USA, die ein Korrespondentennetz unterhalten, das auch nur annähernd mit dem der deutschen und schweizerischen Qualitätszeitungen vergleichbar ist, ist zwar sehr klein. Dazu gehören die New York Times, die Washington Post, die Los Angeles Times, der Christian Science Monitor, die Chicago Tribune, USA Today, die Regionalzeitungen der McClatchy-Zeitungsgruppe (u. a. Miami Herald) und das Wall Street Journal.

Es gibt aber in den USA auflagenstarke Publikumszeitschriften wie The New Yorker und The Atlantic sowie die eher akademische New York Review of Books, die sowohl in der Chronik der laufenden Weltereignisse als auch bei der investigativen Recherche und analytischen Einordnung ein hohes Niveau halten. Zu erwähnen ist ferner die US-Ausgabe des Wochenmagazins Economist, das als «globales Magazin» das Wichtigste aus allen Kontinenten nüchtern und verlässlich darstellt. Die US-Ausgabe allein verkauft knapp 750 000 Exemplare. Auch ist zu bedenken, dass britische und amerikanische Zeitungen in Kriegs- und Krisenzeiten Sonderkorrespondenten in grosser Zahl entsenden, die bei guter Vorbereitung eine qualitativ durchaus gute Berichterstattung erbringen. Der jüngste Krieg in Georgien lieferte dafür Beispiele. Die USA können also nicht einfach als Land aussenpolitischer Ahnungslosigkeit beschrieben werden.

Gefahr der Kannibalisierung
Weitere Daten, die das Project for Excellence in Journalism kürzlich vorgelegt hat, deuten ausserdem darauf hin, dass die starke Lokalorientierung der US-Zeitungen und Fernsehsender nicht, wie von Redaktionschefs und Medienmanagern gerne behauptet, den Publikumswünschen entspricht: Während sich die Zeitungen aus der Auslandberichterstattung zurückziehen, wird diese nämlich im Internet heftig nachgefragt. Alle untersuchten News-Sites offerieren im Durchschnitt einen Anteil von 15 Prozent genuiner Auslandberichterstattung plus weitere 26 Prozent zu Themen, welche amerikanische Interessen im Ausland berühren. Die fünf wichtigsten Online-Nachrichtenangebote liegen sogar deutlich über diesen Werten. Nahe am Durchschnitt befindet sich noch AOL News. Die beiden Websites von CNN und MSNBC, die von «alten» Fernsehanbietern betrieben werden, liegen mit 17 und 25 Prozent genuiner Auslandberichterstattung bereits deutlich über dem Durchschnitt. Die Spitzenwerte offerieren die «neuen» Anbieter Yahoo News (genuin 32 Prozent, auf US-Interessen bezogen 33 Prozent) und Google News (genuin 37 Prozent, auf US-Interessen bezogen 26 Prozent). Die Zahlen lassen sich als eines von vielen Indizien werten, dass die US-Zeitungen derzeit auf dem besten Weg sind, sich selbst zu kannibalisieren.

Jill Carroll, Foreign News Coverage: The U. S. Media’s undervalued asset. Working Paper für das Joan Shorenstein Center on the Press, Politics and Public Policy. 2007. http://www.hks.harvard.edu/presspol/research_publications/papers/working_papers/2007_1.pdf

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