Eine Studie der Universität Hohenheim und der ING-DiBa zeigt, dass die Kluft zwischen Nutzern und Wirtschaftspresse groß ist.
Dabei haben die Leser und Konsumenten einfache Wünsche. Die zehn wichtigsten Ergebnisse.
1. Wirtschaftsjournalismus steht auf der Kippe
Das Interesse der Menschen an Wirtschaft ist groß. Ihre Themen interessieren nicht nur Entscheider, sondern – entgegen mancher Vorurteile – auch die breite Mehrheit der Bürger. Ihr Vertrauen in Journalismus insgesamt ist hingegen nicht ganz so groß. Nur knapp über die Hälfte der Menschen glaubt (noch), dass Journalisten allgemein betrachtet die relevanten Themen und Probleme ausreichend aufgreifen. Gerät nach Wirtschaft und Politik nun auch noch die Institution „Journalismus“ in eine Vertrauenskrise? Bei rund 40 Prozent der Menschen überwiegt bereits das Misstrauen. Für den Wirtschaftsjournalismus ist dies Chance und Gefahr zugleich. Wenn er weiter erfolgreich sein will, muss er sein Publikum stärker in den Blick nehmen. Sind die Wirtschaftsjournalisten bereit dazu? Haben sie die Zeichen der Zeit erkannt?
2. Wirtschaftsjournalismus ist (noch) sehr gefragt
Wirtschaftsjournalismus steht als Informationsquelle (noch) hoch im Kurs. Vor allem die klassischen Angebote aus Presse und Rundfunk werden von der deutlichen Mehrheit der Befragten häufig (täglich oder wöchentlich) genutzt. Auch das persönliche Umfeld ist eine wichtige Quelle, die nicht unterschätzt werden darf. Online-Medien legen insbesondere bei den Entscheidern an Bedeutung zu. Informationen von gesellschaftspolitischen Organisationen und Unternehmen werden dagegen nur flankierend genutzt, wenn man sich zu Wirtschaftsfragen informieren will. Die „Macht“ bzw. der Einfluss der Wirtschaftsberichterstattung ist somit (noch) ungebrochen im Konzert der vielen verschiedenen Informationsquellen. Interessant ist dann die Frage, welche Medien genau genutzt werden.
3. Wirtschaftsjournalismus ist mehr als Fachjournalismus
Wirtschaftsjournalismus hat, wenn man sein Publikum und deren Nutzung betrachtet, viele Gesichter. Er findet nicht nur in fachspezifischen Medien statt und umfasst nicht nur Angebote für Experten. Im Gegenteil: Für die Bevölkerung ist Wirtschaftsjournalismus in Universalmedien die erste Anlaufstelle. Das gilt insbesondere für die regionalen und überregionalen Tageszeitungen. Auch für die Entscheider sind sie wichtig und ergänzen ihr Portfolio der spezifischeren Medien. Wirtschaftsjournalismus in Universalmedien darf deshalb nicht unterschätzt werden. Diese Medien prägen in weiten Teilen, wie Wirtschaftsjournalismus insgesamt wahrgenommen und bewertet wird, beispielsweise in Sachen Glaubwürdigkeit. Die großen Titel der Universal- und Wirtschaftspresse werden als Leitmedien angesehen. Auch ihre Online-Portale finden Beachtung, vor allem bei den Entscheidern.
4. Wirtschaftsjournalismus sollte über die „Nabelschau“ der Wirtschaft hinausgehen
Nicht nur die Themen, die Wirtschaftsjournalismus bearbeitet, sind komplex. Auch die Perspektiven auf Wirtschaft, die von ihm erwartet werden, sind vielfältig. Sie hängen davon ab, wie Wirtschaftsjournalismus sich selbst verortet – ob als Teil der Wirtschaft oder außenstehend –, wie er von seinem Publikum eingeschätzt wird und wie das Publikum seine eigene Rolle und Position wahrnimmt – als Teil der Wirtschaft oder der Gesellschaft. Das Publikum sieht Wirtschaftsjournalismus als eine Art „Grenzgänger“ zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. Er muss beide Seiten im Blick haben und im Zweifelsfall der Wirtschaft den Spiegel vorhalten oder Grenzen aufzeigen.
Er ist in ihren Augen bei weitem kein „verlängerter Arm“ der Wirtschaft. Die Bürgerinnen und Bürger artikulieren ganz klar diese Ansicht, vor allem je höher ihr Bildungsabschluss ist und je älter sie sind. Auch die Entscheider haben diese Haltung – obwohl sie in ihrer Führungskräfte-Rolle befragt werden und in dieser Hinsicht eindeutig zur Wirtschaft gehören. Die Journalisten stimmen zu, dass Wirtschaftsjournalismus den Blick über den Tellerrand leisten muss. Ihre Beweggründe dafür sind aber anderer Natur. Sie sehen sich zuvorderst als „neutrale Beobachter“.
Die Fachjournalisten verstehen sich klar als „Dienstleister“ für die Wirtschaft, die gesellschaftspolitische Entwicklungen für diese entdecken und aufbereiten. Bei den Vertretern von Universal- und Wirtschaftsmedien ist dieses Zugehörigkeitsgefühl zur Wirtschaft weniger verbreitet. Sie verstehen sich aber auch nur in Ansätzen als „Sprachrohr“ der Gesellschaft und sind zurückhaltend – möglicherweise viel zu zurückhaltend. Denn auf sie sind in erster Linie die hohen Erwartungen der Bürger gerichtet. Sie bilden für die meisten Menschen den Zugang zur komplizierten Welt der Wirtschaft und den „emotionalen Hafen“ bei beängstigenden Themen wie z. B. die EU-Verschuldungskrise und deren Auswirkungen auf die „kleine Welt“ der Staatsbürger und Steuerzahler.
5. Wirtschaftsjournalismus ist Informant, Coach und „Helfer im sozialen Gefüge“
Die Bürger haben große Erwartungen an einen Wirtschaftsjournalismus, der die großen Zusammenhänge und Grenzen hinterfragt. In erster Linie wollen sie und die Entscheider vor allem verlässliche, abgesicherte Informationen von ihm. Das genügt ihnen aber nicht. Wirtschaftsjournalismus ist für sie auch „Coach“ in Sachen persönlicher und beruflicher Entwicklung und unterstützt sie bei der Integration in ihr soziales Umfeld, z. B. um bei Themen mitreden zu können. Für die Mehrheit des Publikums gilt dabei: Die Menschen wollen eher nicht bevormundet, dafür aber zu eigenen Entscheidungen befähigt werden. Orientierungswissen geht vor Nutzwert im engen Sinn.
Auch die Journalisten sehen Informationsvermittlung als zentrales Ziel. An zweiter Stelle verstehen sie sich als „Sparringspartner“. Der klassische Nutzwert-Gedanke wird von ihnen nicht so rigoros abgelehnt. Sie schätzen damit möglicherweise das eigene Publikum, das selbst entscheiden will – anstatt einem Rat zu folgen, den es oft gar nicht benötigt und über dessen Zustandekommen es manchmal nur mutmaßen kann.
6. Publikumsnähe entscheidet: Wirtschaftsberichterstattung wird nicht nur von „Verbrauchern“ und „Managern“ genutzt
Bevölkerung und Entscheider wollen Informationen, die zu ihnen und ihrer aktuellen Situation passen. Dabei ist entscheidend, in welcher Rolle sie sich gerade sehen. Jemand, der als Verbraucher nach Informationen sucht, interessiert sich vielleicht für dasselbe Thema wie ein Arbeitnehmer, der in einer entsprechenden Branche arbeitet. Die Perspektive auf das Thema ist jedoch jeweils eine vollkommen andere. Die Bevölkerung interessiert sich vor allem als Verbraucher, Staatsbürger und Steuerzahler für Wirtschaftsberichterstattung. Sie hat auch persönlich stärker die gesellschaftspolitische Brille auf und sieht sich weniger in Rollen, die der Wirtschaft angehören.
Anders bei den Führungskräften: Für sie ist ihre Entscheider-Rolle am wichtigsten – auch wenn sie darüber hinausgehende Bedürfnisse haben. Die meisten von ihnen sehen sich auch als Staatsbürger und Verbraucher, wenn sie Wirtschaftsberichterstattung nutzen. Das ist ein Indiz dafür, dass sie eben nicht nur auf Wirtschaft fixiert sind. Trotzdem bleibt ihre Sicht auf Wirtschaftsjournalismus eine Gratwanderung zwischen zwei Welten.
Die Wirtschaftsjournalisten werden dem aber nicht immer gerecht. Sie sehen sich insgesamt nicht als „Weltenwanderer“. Denn sie konzentrieren sich in der Summe auf Zielgruppen, die der Wirtschaft angehören, z. B. Verbraucher oder Führungskräfte. Dies ist eine eindimensionale Einschätzung und gefährdet ihre Glaubwürdigkeit wie auch ihre Akzeptanz als ernsthafter Akteur bei wirtschaftspolitischen Entwicklungen.
7. Wirtschaftsjournalismus hat zwar mehrere Themenprofile, aber nur eine Perspektive
Die unterschiedlichen Perspektiven, die die Vorstellungen von Wirtschaftsjournalismus prägen, sind auch bei den Themeninteressen präsent. Es zeigen sich zwei Themenprofile: Das Erste behandelt Wirtschaft insbesondere in ihren Beziehungen zum Umfeld und orientiert sich dabei an gesellschaftspolitischen Aspekten. Das Zweite konzentriert sich eher auf Binnenthemen der Wirtschaft und nimmt vor allem den wirtschaftlichen Blickwinkel ein. Die Bürger lassen sich klar dem ersten Themenprofil zuordnen. Die Journalisten aus Universal- und Wirtschaftsmedien rücken schon näher an die Wirtschaftsperspektive heran. Fachjournalisten favorisieren das zweite Themenprofil, wobei sich die Entscheider Schritt für Schritt der Gesellschaftsperspektive zuwenden. Kennzeichnend ist, dass die Journalisten bei beiden Themenprofilen immer stärker die „Wirtschaftsbrille“ aufsetzen als ihr Publikum.
8. Wirtschaftsthemen sind „ernst“ – und sollten sachbezogen gestaltet werden
Alle Antworten des Publikums zeigen, dass Wirtschaftsjournalismus für sie eine ernste Sache ist. Sie haben hohe Anforderungen an ihn, was seine Ausrichtung und seine Inhalte anbelangt. Sie nutzen ihn erwartungsgemäß nicht, um sich zu entspannen oder unterhalten zu werden. Diese Erwartungshaltung setzt sich bei der Aufbereitung von Wirtschaftsthemen fort. Aus ihrer Sicht soll der Wirtschaftsjournalismus Tatsachen betonen und neutral sein, eher erklären und einordnen und vor allem nüchtern aufbereitet sein. Die Mehrheit der Befragten lehnt die in Mode gekommenen journalistischen Techniken der Visualisierung und Personalisierung eher ab.
Außer in der Frage des erklärenden Vermittlungsstils, dem mehr Journalisten als Publikumsvertreter zustimmen, äußern sich die Journalisten in allen Fällen zurückhaltender als ihr Publikum – oder gegensätzlich. Für sie ist Wirtschaftsjournalismus im Kern ebenfalls sachlich und ernst, darf aber durchaus unterhaltsam aufbereitet sein. Sie haben den Kampf um Aufmerksamkeit bzw. Reichweite oder Quoten im Blick. Aber – ist dies im Sinne des Publikums?
9. Wirtschaftsjournalismus ist seinen Zielgruppen unterschiedlich nah
Wirtschaftsjournalismus hat zahlreiche Ausprägungen und kann ganz unterschiedlich aussehen. Dies gilt auch für das jeweilige Publikum. Ein Blick auf einzelne Angebotsgattungen hilft dabei, noch konkretere Aussagen zu den einzelnen Vorstellungen von Wirtschaftsjournalismus zu treffen – und herauszufinden, wie nahe sich Journalisten und ihr Publikum wirklich sind. Als Beispiele werden die Angebotskategorien aus dem breiten, wirtschaftsorientierten und fachspezifischen Wirtschaftsjournalismus ausgewählt, die den Bürgern und Entscheidern am wichtigsten sind.
Bei der Perspektive der Wirtschaftsberichterstattung und Themeninteressen stimmen die Journalisten regionaler Tageszeitungen mit den Entscheidern unter ihren Lesern weitgehend überein. Die stärker gesellschaftspolitische Perspektive der Bevölkerung bleibt jedoch deutlich außen vor. Im Hinblick auf die Aufbereitung gehen die Vorstellungen von Journalisten und Lesern in eine ähnliche Richtung.
Bei den Journalisten und Lesern von Wirtschaftszeitschriften dreht sich dieses Verhältnis: Bei der grundsätzlichen Perspektive gibt es tendenziell eine Übereinstimmung, wenn auch die Journalisten die Wirtschaftssicht pointierter vertreten als ihr Publikum. Die Aufbereitung sorgt hingegen für Unstimmigkeiten. Die Journalisten von Fachzeitschriften sind von ihren Lesern am weitesten entfernt. Sowohl bei der Grundorientierung als auch der Aufbereitung ist die Distanz zu den Vorstellungen ihrer Leser groß.
10. Die Publikumsperspektive – Hinweise zur besseren Positionierung des Wirtschaftsjournalismus und zur Weiterentwicklung redaktioneller Konzepte
Die Ergebnisse der Befragungen zeigen, dass die Vorstellungen der Wirtschaftsjournalisten und des Publikums nicht immer übereinstimmen. Sowohl für die Journalismusforschung als auch die Wirtschaftsjournalismus-Praxis ist das eine große Herausforderung. Die Befragungen liefern Ansatzpunkte für eine Neuausrichtung und Weiterentwicklung. Ein erster Schritt dazu ist die Betrachtung verschiedener Gruppen von Wirtschaftsjournalisten und des Publikums. Bereits die grundlegende Unterteilung in Fachjournalisten und Vertreter aus Universal- und Wirtschaftsmedien sowie in „Normalbevölkerung“ und Entscheiderpublikum erbringt zahlreiche spannende Erkenntnisse.
Entscheider und Bevölkerung unterscheiden sich deutlich in ihren Vorstellungen und Erwartungen. Der Wirtschaftsjournalismus wird sich entscheiden müssen, wo er sich zwischen Wirtschaft und Politik als „Input“-Geber sowie seinen Kunden positioniert, wie viel Ferne er sich leisten kann und wie viel Nähe für ihn zuträglich ist. Die Sicht des Publikums ermöglicht auch Weiterentwicklungen im Medienwettbewerb, z. B. wenn man an redaktionelle Strategien der Publikumsansprache denkt.
Prof. Dr. Claudia Mast ist Inhaberin des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft und Journalistik der Universität Hohenheim.
Dieser Beitrag ist entnommen aus:
Mast, Claudia (Hrsg.): Neuorientierung im Wirtschaftsjournalismus. Redaktionelle Strategien und Publikumserwartungen, Wiesbaden: Springer.
Der Beitrag wurde in dieser Form auch im Wirtschaftsjournalist 4/2012 veröffentlicht.
Weitere Informationen zur Langzeitstudie “Wirtschaftskommunikation – Innovationen und Trends”: www.wkm-online.com
Schlagwörter:ING-DiBa, Konsumenten, Leser, Universität Hohenheim, Vertrauenskrise, Wirtschaft, Wirtschaftsjournalismus