Gute Ernährung, ausreichend Bewegung, Finger weg von Zigaretten – es braucht kein Medizinstudium, um eine klare Vorstellung zu haben, was für den Körper gesund ist. Aber was macht eine „gesunde“, leistungsfähige Öffentlichkeit aus, was können Gesellschaften dafür tun, und wo liegen die Risikofaktoren? Das EU-geförderte Forschungsprojekt Mediadelcom fühlt der öffentlichen Kommunikation in 14 Ländern den Puls – und das EJO gibt in den kommenden Wochen Einblicke in erste Ergebnisse.
Eines haben die persönliche Gesundheit und öffentliche Kommunikation gemeinsam: So richtig zu schätzen weiß man sie häufig erst, wenn’s zwickt. Doch während bei der körperlichen Fitness jede und jeder mitreden kann, tun sich bei grundsätzlichen Fragen öffentlicher Kommunikation selbst Medienprofis schwer: Wann Öffentlichkeit funktioniert, was sie braucht oder ihr schadet, wer sie wie unterstützen kann, das ist gar nicht so leicht zu definieren. Hier setzt das Horizon 2020-Projekt Mediadelcom (www.mediadelcom.eu) an:
Ziel des Projekts ist es, Risiken und Chancen für mediale Öffentlichkeit in 14 europäischen Ländern zu erfassen und mehr oder weniger erfolgreiche Entwicklungspfade zu identifizieren.
Das Forschungsprojekt geht folgendermaßen vor:
Schritt 1: Wann geht es der Öffentlichkeit gut?
Blutdruck oder Ruhepuls, Schnellkraft oder Denkaufgaben – wer Gesundheit messen möchte, muss sich erstmal überlegen, was der Begriff eigentlich umfasst. Für Öffentlichkeit gilt dasselbe: Ist das Ziel lediglich, Nachrichten zu verbreiten? Transparenz herzustellen über politische Entscheidungsprozesse? Soll es, darüber hinaus, um die Einbindung vieler gesellschaftlicher Gruppen gehen – oder ist der Anspruch noch umfassender?
Das „delcom“ in Mediadelcom steht für deliberative (also „beratschlagende“) Kommunikation – eine anspruchsvolle, aber auch vielversprechende Zielvorstellung: Sie umfasst faire Beteiligungschancen am öffentlichen Diskurs, freien Zugang zu Informationen für alle Beteiligten und schließlich die Akzeptanz des besseren Arguments zur öffentlichen Konfliktlösung. Deliberative Öffentlichkeit ermöglicht also im Idealfall auch eine auf diesen Grundsätzen beruhende politische Entscheidungsfindung. Mit der Deliberative Democracy-Komponente des V-Dem-Index existiert hierzu ein Verfahren, die deliberative Qualität politischer Prozesse auf Staatenebene zu erfassen und vergleichbar zu machen. Doch was braucht es, damit deliberative Öffentlichkeit gelingt und so deliberative Demokratie ermöglichen kann?
Schritt 2: Welche Chancen und Risikofaktoren kommen in Frage?
„An apple a day keeps the doctor away” mag eine griffige Erinnerung an die Bedeutung vitaminreicher Ernährung darstellen, genügt aber nicht als ganzheitliche Beschreibung eines gesunden Lebensstils. Vielleicht sind Orangen besser als Äpfel, vielleicht ist die Schlafmenge viel wichtiger als die Ernährung. Nicht weniger komplex ist es bei der Öffentlichkeit: Um deliberationsfördernde oder -verhindernde Faktoren erkennen zu können, bedarf es einer umfassenden Analyse dessen, was eine Rolle spielen könnte. Hierzu definierten die am Projekt beteiligten Teams für vier Bereiche des Mediensystems Faktoren, bei denen ein Einfluss auf die Ausbildung und Stabilisierung deliberativer Kommunikation jedenfalls zu vermuten steht. Diese Kernbereiche sind
- Medienregulierung (sowohl rechtlich als auch durch Mechanismen der Selbstkontrolle),
- Journalismus (sowohl bezogen auf den Markt für journalistische Produkte als auch auf professionelle Rollen und Kompetenzen),
- Mediennutzung und
- medienrelevante Kompetenzen der Bevölkerung.
Beispiele für einzelne Variablen sind etwa die Arbeitszufriedenheit im Journalismus, Medienkompetenzangebote für verschiedene Bevölkerungsgruppen, Muster der Mediennutzung oder rechtliche Regelungen zum journalistischen Quellenschutz.
Wie all diese Elemente zusammenspielen, soll dabei zu einem späteren Zeitpunkt analysiert werden – zunächst ging es darum, keine möglicherweise relevanten Einflussgrößen auszuschließen.
Schritt 3: Daten sammeln.
Um über eine Momentaufnahme der „Fitness“ der untersuchten Mediensysteme hinauszugehen, stützt sich die Datensammlung zu den oben identifizierten Bereichen nicht auf eigene Messungen, sondern auf vorhandene Daten. Diese werden durch Einschätzungen von Expertinnen und Experten ergänzt. Für jedes der 14 Mediadelcom-Länder wurden zwei Fallstudien erstellt: Die erste analysiert die Monitoring Capabilities, also wie gut die unterschiedlichen Länder Entwicklungen im Medienbereich erfassen, analysieren und dieses Wissen idealerweise auch für medienpolitische Entscheidungen nutzen. Dabei wurden neben wissenschaftlichen auch institutionelle Akteure wie Einrichtungen der Medienaufsicht, NGOs oder Verbände berücksichtigt. Die zweite Fallstudie pro Land befasst sich dagegen mit der zeitlichen Entwicklung seit der Jahrtausendwende und erfasst gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und mögliche Schlüsselmomente. Zusammengenommen ergeben die 28 Fallstudien ein umfassendes Bild über relevante Akteure, Entscheidungen, Entwicklungen und Forschungsstrukturen – gewissermaßen die komplette Patientenakte statt einer einzelnen Blutdruckmessung.
Die Länder-Fallstudien sind jetzt auf der Projektwebsite veröffentlicht. Studierende des Instituts für Journalistik der TU Dortmund haben sich für das Seminar „Internationale Mediensysteme und journalistische Kulturen“ bereits intensiv mit den Studien befasst und darüber geschrieben: Kompakte Zusammenfassungen zur Situation in den unterschiedlichen Ländern erscheinen ab heute in loser Folge auf ejo-online.eu – den Anfang macht der Artikel über Ungarn von Henrike Utsch und Lea Hollender.
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Schlagwörter:deliberative Kommunikation, demokratische Öffentlichkeit, Mediadelcom