Comic-Journalismus: Diese Bilder sind nicht lustig

23. Juli 2014 • Qualität & Ethik • von

Sie recherchieren vor Ort, interviewen Zeugen, befragen Betroffene, hören zu, notieren, fotografieren, fertigen Skizzen an und produzieren daraus eine Reportage: Comic-Journalisten arbeiten wie Wort-Journalisten – nur, dass sie eben zeichnen. Sie erzählen in Bildern, genauer: in Wort und Bild.

So ein Comic-Journalist ist Patrick Chappatte. Chappatte, der u.a. für die NZZ am Sonntag, Le Temps und die International New York Times zeichnet, zählt zu den international führenden Cartoonisten und Comic-Reportern. Immer wieder reist er in Krisen- und Kriegsgebiete, berichtet über die Gang-Gewalt in Guatemala City und die Kriegsfolgen im Gaza-Streifen und Libanon.

In seiner animierten Comic-Reportage Death in the field (2011), die zuerst in französischer Sprache in der Zeitung Le Temps publiziert wurde, erzählt Chappatte davon, wie die Menschen im Libanon, drei Jahre nach dem Krieg, mit der immer noch drohenden Gefahr von nicht explodierten Streubomben leben.

Fakten statt Fiktion

Die Themen, mit denen sich Comic-Reporter wie Patrick Chappatte, Dan Archer oder Erin Polgreen befassen, sind schlicht und einfach hard news: Krieg und dessen Auswirkungen, Gewalt gegen Frauen, von der Gesellschaft diskriminierte Randgruppen, Menschenrechtsverletzungen, Menschenhandel. Sie nutzen dafür ein Medium, das nach wie vor von den meisten Rezipienten mit lustigen Bildern, mit Entertainment und Fiktion assoziiert wird: Comics. Doch Comic-Journalismus hat nichts mit funny pictures und Fiktion zu tun; er bedient sich lediglich der Stilmittel und Erzähltechniken des Comics. Joe Sacco, der Pionier des Comic-Journalismus, schreibt im Vorwort zu seinem Buch Journalism: „There ist nothing literal about drawing … The journalist’s standard obligations – to report accurately, to get quotes right, and to check claims – still pertain.“

Auch Chappatte bezeichnet sich als Journalisten, als BD reporter (bande dessinée), für den die gleichen journalistisch-ethischen Standards gelten wie für einen Wort-Journalisten. So integriert er in seine gezeichneten Reportagen dokumentarisches Material wie z.B. Fotos von Interviewpartnern und Schauplätzen, Karten und Infografiken, um die Authentizität der Story zu unterstreichen. Daneben macht er seine Recherchequellen transparent, etwa in einem Making-of oder einem Infokasten; und er zeichnet sich als Reporter vor Ort in die Geschichte hinein. Damit macht Chappatte ganz bewusst den subjektiven Blickwinkel, aus dem er die Geschichte erzählt, transparent.

Ist das überhaupt noch Journalismus?

Das Offenlegen von Recherchequellen und -methoden, das Integrieren der Reporterperson in die Panels und der deutliche Hinweis auf eine subjektive Berichterstattung gelten als typische Merkmale des Comic-Journalismus. Gleichzeitig bietet genau diese Subjektivität immer wieder einen Angriffspunkt für Kritiker. Können diese handgezeichneten Reportagen überhaupt als journalistisch gelten, wenn das Kriterium der Objektivität negiert wird? Und wie sieht es mit der Aktualität aus? Immerhin brauchen Zeichnungen Zeit, erst recht, wenn sie anschliessend noch animiert werden?

Analysiert man Chappattes Reportagen Death in the Field oder Der andere Krieg, in Guatemala City (NZZ am Sonntag 21.10.2012), so treffen journalistische Qualitätskriterien wie Relevanz und Aktualität (im Sinne von Gegenwartsbezug), Faktentreue, Perspektivenvielfalt, Unabhängigkeit, Glaubwürdigkeit, Verständlichkeit und Originalität durchaus zu. Objektiv sind seine Comic-Reportagen jedoch nicht. Denn Zeichnungen tragen per se subjektive Züge. Berichtet ein Wort-Journalist von UN-Soldaten, dann benennt er sie einfach so, als „UN-Soldaten“; ein Comic-Journalist dagegen muss sie zeichnen, ihnen ein Gesicht geben, Uniformen anziehen, sie in eine Umgebung platzieren. Darin liegt das Subjektive – und das ist ein Prinzip des Comic-Journalismus. Anstelle der Begriffe Subjektivität und Objektivität bevorzugen Comic-Reporter die Begriffe Transparenz und Glaubwürdigkeit. Es geht ihnen um eine transparente Subjektivität. Damit bezieht Comic-Journalismus eindeutig Position im aktuellen Diskurs um Objektivität im Journalismus.

Wider den nüchternen Nachrichtenstil

Genau darin liegt aber zugleich eine der Stärken des Comic-Journalismus. Mit ihren bewusst subjektiven Schilderungen wollen die Comic-Journalisten einen Kontrapunkt zur objektiven, nüchternen und emotionslosen Nachrichtensprache setzen. Comic-Reporter wie Chappatte sehen in der Attraktivität und Emotionalität der Comicform die Möglichkeit, die traditionellen Formen des Journalismus aufzubrechen, Aufmerksamkeit zu erzielen für Themen, die im schnelllebigen Nachrichtengeschäft vielleicht kein Gehör finden.

Dabei sind die Spielarten des Comic-Journalismus noch längst nicht ausgereizt, wenn man an die interaktiven Hypercomics von Dan Archer denkt, an die Form des Motion Comics, z.B. von Matt Bors und Caroline Dijckmeester-Bins, das Infinite Canvas-Konzept, wie es Scott McCloud bereits 2000 beschrieben hat, an Multimedia-Dokumentationen wie Cordt Schnibbens Mein Vater ein Werwolf (Spiegel online) oder an Hybridformen wie Infografiken als Comic und handgezeichneten Datenvisualisierungen.

Das sind alles keine Formen, die sich für den schnellen Nachrichtenjournalismus oder gar für Breaking News eignen, wohl aber um Hintergründe zu beleuchten, Perspektivenvielfalt zu gewähren, Emotionalität zu vermitteln und um multimedial und interaktiv zu erzählen; als Eye-Catcher ziehen Comic-Reportagen zudem die Aufmerksamkeit der Leser und Benutzer auf sich und bergen das Potenzial, neue Zielgruppen zu gewinnen.

Und was sagt die Forschung dazu?

Comic-Journalismus, auch graphic journalism genannt, hat in den letzten Jahren deutlich an Präsenz und Akzeptanz gewonnen und etabliert sich allmählich auch im deutschsprachigen Raum. Bisher wird diese Darstellungsform des visuellen Journalismus hauptsächlich von Praktikern diskutiert, vor allem auf Blogs und Websites, die sich mit Comics, Cartoons, Illustration und Animation beschäftigen. Wissenschaftliche Untersuchungen dagegen gibt es bis jetzt wenige; wenn, dann fokussieren sie meist die Arbeiten von Joe Sacco.

Die hier skizzierten Erkenntnisse verstehen sich als einen ersten Schritt, um diese Lücke zu schließen. In einem aktuellen Forschungsprojekt in Kooperation mit Professor Hans-Martin Rall von der Nanyang Technological University (NTU), Singapur, untersuchen wir das Genre Comic-Journalismus, analysieren Stilmerkmale, Erzähltechniken sowie multimediale Erzählformen und loten die nicht immer einfach zu ziehende Grenze aus zwischen Comic-Journalismus, Graphic Novel, Animated Documentary und Newsgames.

Quellen:

 Bildquelle: Screenshot

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