Auf der Jagd nach schnellen Schlagzeilen scheinen die Medien immer skrupelloser und sensationsfreudiger vorzugehen.
Verwanzte Blumensträuße, verdeckte Kameras, verkleidete Journalisten. Für viele ist im März nicht nur ein Flugzeug, sondern auch der Journalismus abgestürzt. Auf der Jagd nach schnellen Schlagzeilen scheinen die Medien immer skrupelloser und sensationsfreudiger vorzugehen. Wie lässt sich diese Entwicklung aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht erklären?
Quantität sticht Qualität
Die jüngste Katastrophe der deutschen Geschichte ereignete sich am Vormittag des 24. März 2015: Auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf zerschellt der Germanwings-Airbus A320 in den südfranzösischen Alpen und reißt alle 150 Insassen in den Tod. Zwei Tage später gerät der Co-Pilot in Verdacht, den Absturz absichtlich herbeigeführt zu haben.
In der Folge zeigten sich die Menschen nicht nur über die eigentliche Katastrophe erschüttert, sondern auch über die katastrophale Berichterstattung. Unzählige Falschmeldungen ohne Bestätigung, Expertenbefragungen ohne Antworten, Sondersendungen ohne Inhalt und Spekulationen ohne ausreichende Hinweise prägen den medialen Irrflug. Keine Frage: Ihre Informationspflicht haben die Medien mehr als erschöpfend erfüllt – zumindest in Sachen Schnelligkeit und Aktualität. Doch sind Speed und Quantität die neue Qualität? Haben es die Medien durch die zunehmende Mediatisierung und mobile Mediennutzung mit ungeduldigen, informationshungrigen Rezipienten zu tun, die eine entsprechende Berichterstattung einfordern?
“[…] Medien sind Treiber und Getriebene einer Entwicklung, die mit einem tatsächlichen oder unterstellten allumfassenden Informationsanspruch der Gesellschaft an die Grenze des Totalitären führt”, erklärt Peter Lange, Chefredakteur von Deutschlandradio Kultur. So reagieren die Medien seiner Meinung nach “auf die Zwänge, denen sie sich ausgesetzt sehen von einer Gesellschaft, die sich angeblich im permanenten Breaking-News-Modus befindet”. Über den Urheber der neuen Quantität lässt sich scheinbar streiten.
Sensation sticht Sensibilität
Als bekannt wird, dass sich auch sechzehn Schüler und zwei Lehrerinnen des Halterner Gymnasiums an Bord befunden haben müssen, ist die Tragödie perfekt. Wie ein Rudel hungriger Wölfe stürzen sich die Medien nun auf die trauernden Hinterbliebenen und reißen sich um die emotionalsten Momente. Ein Schüler des betroffenen Gymnasiums schildert die mediale Belagerung auf seinem Blog. Darin berichtet er etwa von verkleideten Reportern, verwanzten Blumensträußen, verdeckten Aufnahmen und verbotenen Kopien von Kondolenzbucheinträgen (vgl. Baumeister 2015).
In der Zwickmühle zwischen Qualität, Quantität und Quote scheint der Spagat zwischen ausgiebiger und angemessener Berichterstattung zu misslingen. Dies war bereits bei ähnlichen Tragödien wie dem Winnenden-Amoklauf 2009 oder dem Loveparade-Unglück 2010 zu beobachten. Der Publizist Albrecht von Lucke spricht sogar von einem “wiederkehrenden Medien-Ritual”, welches vermutlich nicht zum letzten Mal zu beobachten ist (Baetz 2015: o.S.). Hat sich die katastrophale Katastrophenberichterstattung bereits etabliert?
Nachrichtenwert sticht Pressekodex
Ein Blick in den deutschen Pressekodex bestätigt diesen Verdacht. Dieser Sammlung publizistischer Grundsätze stimmen Verleger und Journalisten in freiwilliger Selbstverpflichtung zu, doch scheinbar mit gekreuzten Fingern. Zumindest scheinen die Grundsätze “Sorgfalt” (Nr. 2), “Grenzen der Recherche” (Nr. 4), “Schutz der Persönlichkeit” (Nr. 8), “Sensationsberichterstattung, Jugendschutz” (Nr. 11) oder “Unschuldsvermutung” (Nr. 13) vielen Journalisten bei der Berichterstattung zum Germanwings-Unglück wieder einmal entfallen zu sein. Grundsatz Nr. 4 verbietet etwa “unlautere Methoden” bei der Informationsbeschaffung, welchen die Bedrängung und Bezahlung von Minderjährigen für Interviews oder Talkshowbesuche vermutlich zugezählt werden können. Zudem erscheinen verdeckte Reportagen als falsche Seelsorger oder Lehrer verkleidet mehr als ungerechtfertigt, da wohl kaum aufgedeckt werden muss, dass Menschen nach einem schweren Verlust für gewöhnlich trauern.
Stattdessen sollte die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen nach dem 11. Grundsatz “ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen” finden. Was jedoch in Haltern geschah, ist im journalistischen Fachjargon unter dem Begriff “Witwen-Schütteln” bekannt. Darunter ist die rücksichts- und respektlose Jagd nach Informationen aus dem nächsten Umfeld von Tätern und Opfern einer Straftat oder Katastrophe zu verstehen. Wie praktisch, dass die Befolgung der Kodex-Richtlinien auf Freiwilligkeit beruht und die höchste Strafe eine öffentliche Rüge des Deutschen Presserates ist. So können die Medien ungestört aus dem Vollen schöpfen, ohne ernsthafte Folgen befürchten zu müssen.
Allerdings wurde die Rechnung wohl ohne die Rezipienten gemacht. Über 200 beim Deutschen Presserat eingereichte Beschwerden, wutentbrannte Kommentare in sozialen Netzwerken, Proteste wie #Bildboykott oder eine Online-Petition gegen Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner mit über 45.000 Unterstützern zeugen von gewaltigem Gegenwind.
Doch die Weste der Kritiker strahlt verdächtig weiß. Würden die Medien wirklich so intensiv über ein Ereignis berichten, wenn dieses nicht ebenso intensiv rezipiert würde bzw. nicht lukrativ genug wäre? Würden die Medien wochenlang auf eine Art und Weise berichten, welche beim Großteil ihrer Rezipienten auf Ablehnung stößt?
Fazit
Die Germanwings-Katastrophe hat einmal mehr aufgezeigt, dass die Medien für eine gute Story gerne über Leichen gehen. Dies liegt jedoch nicht nur an einer offensichtlich nachlassenden Berufsethik auf Journalistenseite, sondern wohl auch an einer gestiegenen Sensationsaffinität auf Rezipientenseite. Doch ist das alles? Für den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ist das Nicht-Innehalten-Können des Medienbetriebs, die Scheu davor, auch einmal nicht zu berichten, wenn es nichts Neues zu sagen gibt, ein Indiz für die Unfähigkeit unserer Mediengesellschaft, mit Ungewissheiten umzugehen. Und Publizist Albrecht von Lucke möchte Pörksens Theorie um die “Unfähigkeit zu trauern” ergänzen: “Nicht nur die Medienmacher halten nicht inne, sondern auch eine große Zahl ihrer Kunden” (vgl. Baetz 2015). Bleibt nur zu hoffen, dass das Germanwings-Unglück nicht nur eine kontroverse Debatte gebracht hat, sondern auch einen Wendepunkt.
Von Johanna Jung, Jennifer Woods, Josef Trappel für die Forschungsgruppe-medienwandel.com/ der Universität Salzburg.
Erstveröffentlichung: Der Standard am 11. Mai 2015
Bildquelle: Yan Arief Purwanto/flickr.com
Weitere Informationen
- Am 25.6.2015 veranstaltet die Forschungsgruppe eine Podiumsdiskussion zum Thema “Wissenschaft trifft Krise – Krise trifft Praxis”. In der Edmundsburg in Salzburg diskutieren dazu Vertreter aus Wissenschaft und Medienbranche. Der Eintritt ist frei.
- “Empörung als Chance” – Marlis Prinzing fordert auf EJO nach dem Germanwings-Abstutz und der Berichterstattung darüber einen medienethischen Kompass für die Berichterstattung über Katastrophen.
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Schlagwörter:#Bildboykott, Berufsethik, Ethik, Flugzeug, Germanwings, Germanwings-Katastrophe, Katastrophenberichterstattung, Nachrichtenwert, Pressekodex