Grautöne sehen

9. November 2015 • Qualität & Ethik • von

Die von dem dänischen Rundfunkjournalisten Ulrik Haagerup angestoßene Debatte über konstruktiven Journalismus wirkt inmitten einer verunsicherten Branche auf viele offenbar wie ein Lichtstreifen am Horizont. Onlineplattformen wie „Positive News“ in Großbritannien, „De Correspondent“ in den Niederlanden oder „Perspective Daily“ in Münster blühen auf.

Horizont

Konstruktiver Journalismus heißt vor allem: Grautöne sehen. Dazu gehört auch, kritisch zu bleiben.

Beim JournalismusTag2015 am Mittwoch in Winterthur war der Raum überfüllt, als Michéle Graf Kaiser und Dominique Eigenmann das Konzept, die Rubrik „Die Lösung“ im Zürcher „Tages-Anzeiger“, den Impact Day einer Allianz aus weltweit 50 Zeitungen sowie die „Winwin-Zusammenarbeit“ mit Stiftungen wie Ashoka und „The Right livelihood“ vorstellten: Die Stifter suchten Öffentlichkeit, die Zeitungen konstruktive Projekte. Und Forscherin Denise Baden (Universität Southampton) folgert aus einer Befragung von über 2000 Lesern, die sie eine klassisch gebaute News-Geschichte lesen ließ: Negative Nachrichten seien nicht gut für uns; jedem fünften Leser und gut jeder dritten Leserin schlugen sie aufs Gemüt, negative Nachrichten erzielten zwar Aufmerksamkeit, lähmten aber und demotivierten zu helfen.

Löst „Good news sells“ also das alte Mantra der Bad News ab? Hoffentlich nicht! Wir müssen das Thema konstruktiv angehen: Wir dürfen auf keinen Fall „heile Welt-Journalismus“, Positiv- sowie Friede-Freude-Eierkuchen-Denken oder Anwaltschaften für nette Projekte missverstehen als konstruktiven Journalismus – und diesen dann als harmonisches Werbeumfeld betrachten, das die Geldprobleme der Branche mildert. Das würde das Wesen von Journalismus in einer demokratischen Gesellschaft aushöhlen; denn er muss auch kritisch sein, Missstände zeigen, die großen Herausforderungen verhandelbar machen – wenngleich nicht bis hin zu Skandalisierung und Sensationalisierung. Und: Wir dürfen „Good news“ auf keinen Fall verwechseln mit der Nennung aller Züge, die gerade nicht verspätet sind.

„Konstruktiv“ ist im Journalismus ein Qualitätsversprechen. Das Konzept ist sinnvoll, wenn es Journalisten anstachelt, den Scheinwerfer aufs Publikum zu schwenken und anzudocken an dem, was es berührt und motiviert. Und wenn es auf Bestehendes baut (wie Public Journalism, Solutions Journalism, Friedensjournalismus): Journalisten sollen den Kontext, das ganze Bild, verschiedene Perspektiven sehen.

„Konstruktiv“ bedeutet, eine positive Entwicklung zu fördern. Genau das wollte verantwortungsorientierter Journalismus immer. Er will über kleine Themen (z.B. das Solarprojekt vor Ort) Interesse wecken auch für Großes und Grundsätzliches (z.B. Energiewende), will ein gutes, bewusstes Leben unterstützen. Dazu gehört auch, sich den Blick auf Missstände zuzumuten und kritisch zu bleiben. Konstruktiver Journalismus heißt dann: Die Grautöne sehen!

Erstveröffentlichung: Der Tagesspiegel vom 8. November 2015

Bildquelle: bratispixl / Flickr CC

 

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