Warum vollzog Deutschland bei der Kernenergie einen so grundlegenden Kurswechsel, während nahezu alle anderen Länder ihre Atomkraftwerke unbeirrt weiterbetreiben? Mit dieser Leitfrage setzen sich 21 Medienforscher in einem Buch auseinander, das jetzt Jens Wolling (TU Ilmenau) und Dorothee Arlt (Universität Bern) vorgelegt haben. Dass die Medien beim „Framing“, also bei der Einrahmung und öffentlichen Wahrnehmung des Themas, eine entscheidende Rolle gespielt haben, dürfte für jeden unstrittig sein, der die Inhaltsanalyse von Hans-Matthias Kepplinger und Richard Lemke in dem Reader nachliest. Sie belegt, wie gänzlich unterschiedlich die Medien in vier europäischen Ländern berichtet haben: In Frankreich und Großbritannien wurde im wesentlichen „nur“ die Nachricht über den Tsunami und das anschließende Reaktorunglück verbreitet, in Deutschland und der Schweiz die mediale Diskussion von Anfang an „gedreht“ und auf die Situation im eigenen Land bezogen.
Warum das so war, erhellt die Analyse von Angela Nienierza (Universität München). Sie vergleicht die Berichterstattung der deutschen Medien über die Kernschmelze in Tschernobyl mit Fukushima – und entdeckt nicht nur ähnliche Argumentationsmuster, sondern eine vergleichbar hohe Berichterstattungsintensität. Das überrascht, denn die unmittelbare Betroffenheit der Bevölkerung vom radioaktiven Fallout in Deutschland und zumal in Berlin war 1986 viel größer. Kein anderes westliches Land außer Österreich war geografisch näher an Tschernobyl gelegen. Wahrscheinlich hat die Reaktorkatastrophe in der Ukraine nachgewirkt. Sie hat sich in die Biografien der damals Jüngeren als Horrorereignis tief eingegraben, und sie dürfte auch 2011das neuerlich apokalyptische Framing der deutschen Medien geprägt haben. Dies wiederum hat wohl das Regierungslager veranlasst, die Flucht nach vorn anzutreten und mit einem Ruck die Energiewende einzuleiten.
Jens Wolling/Dorothee Arlt (Hrsg.): Fukushima und die Folgen. Medienberichterstattung, öffentliche Meinung, politische Konsequenzen, Universitätsverlag Ilmenau 2014
Erstveröffentlichung: Tagesspiegel vom 18. August 2014
Der Beitrag ist Teil einer Serie – alle 14 Tage präsentieren drei Medienforscher im Tagesspiegel Ergebnisse und Streitfragen ihres Fachs, die das EJO zweitveröffentlicht.
Teil 1: Lauter, bitte!
Teil 2: Das Publikum vergisst rasch
Teil 3: Politik – mit und ohne Etikett
Teil 4: Facebook im Sinkflug?
Teil 5: Schneidet die alten Zöpfe ab!
Teil 6: Geschlechterklischees in den Medien
Teil 7: Alarm für die Demokratien
Teil 8: Mythen prüfen!
Teil 9: Oligarchie in Wikis?
Teil 10: Weg mit den Mogelpackungen
Teil 11: Offen und traditionsbewusst in die Zukunft
Teil 12: Mit Twitter zum Wahlsieg
Teil 13: Bedeutungsverlust von Pressearbeit
Teil 14: Den Wandel gestalten
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Schlagwörter:Atomenergie, Atomkraft, Berichterstattung, Dorothee Arlt, Energiepolitik, Energiewende, Fukushima, Hans-Matthias Kepplinger, Jens Wolling, Medien, öffentliche Meinung, Stephan Russ-Mohl, Tagesspiegel, Tschernobyl