Dies ist die wohl überraschendste Erkenntnis des diesjährigen European Communication Monitor: 2777 befragte PR-Experten in Europa sehen einen dramatischen Bedeutungsverlust für die traditionelle Pressearbeit vorher und setzen stattdessen auf mobile Online-Kommunikation und damit auch auf eine Direktansprache ihrer Zielgruppen.
Hatte im Jahr 2008 für die Öffentlichkeitsarbeiter noch die Beziehungspflege zu den Printmedien höchste Priorität, so ist das heute nur noch für drei Viertel der Befragten (76 %) wichtig, und weit weniger als die Hälfte (knapp 42 %) rechnet damit, dass im Jahr 2017 diese Art der Medienarbeit noch relevant sein könnte.
Der Report wird vom Leipziger PR-Forscher Ansgar Zerfass jährlich zusammen mit Kollegen und Fachgesellschaften erarbeitet und erfasst vergleichend Befindlichkeiten und Trends in der Kommunikationsbranche in 42 Ländern. Das hier herausgegriffene Umfrageergebnis lässt sich wohl am besten so interpretieren: Die Öffentlichkeitsarbeit hat lange darauf gesetzt, dass Journalismus glaubwürdiger ist als die eigenen Werbebotschaften – und deshalb hat sie allzu erfolgreich den Journalismus über Pressearbeit infiltriert.
Diese Pressearbeit ist immer professioneller geworden und hat viele Redaktionen dazu verführt, Medienmitteilungen mit einem Mausklick zu übernehmen, statt sie kritisch zu hinterfragen. Weil auf diese Weise die „andere Hälfte“ der Wahrheit – all das, was die PR-Leute nicht zum höheren Ruhme ihrer publicity-süchtigen Auftraggeber freiwillig herausrücken – systematisch ausgeblendet wird, hat die Glaubwürdigkeit des Journalismus Schaden genommen. Er taugt deshalb auch für PR-Botschaften weniger als Transportmittel.
Trotzdem sind Journalisten für Öffentlichkeitsarbeiter weiterhin lästig. Manchmal stellen sie ja kritische Fragen, und obendrein haben sie mitunter eigene Vorstellungen, was für ihre Publika berichtenswert sein könnte und was nicht. Wer kann, macht als Kommunikationsexperte deshalb einen Bogen um sie herum – oder er kauft sie am besten gleich für die eigenen Zwecke ein. Dies belegt der jüngste Boom des Corporate Publishing, an dem nicht zuletzt die deutschen Großverlage partizipieren.
PS: Traurig übrigens, dass es bisher keinen ähnlichen Monitor gibt, der sich im Ländervergleich der Entwicklung des Journalismus in Europa widmen würde. Immerhin ist die Schweiz mal wieder EU-Europa voraus: Dort legt Kurt Imhof (Universität Zürich) seit 2010 jährlich einen Bericht zur Qualität der Medien vor, der als Stachel im Fleisch der selbstgefälligen Medienbranche weh tut. Auch diese Studien belegen Jahr für Jahr, wie sich das Machtgefälle zwischen Journalismus und PR zugunsten der Öffentlichkeitsarbeit verschiebt.
Erstveröffentlichung: Tagesspiegel vom 21. Juli 2014
Der Beitrag ist Teil einer Serie – alle 14 Tage präsentieren drei Medienforscher im Tagesspiegel Ergebnisse und Streitfragen ihres Fachs, die das EJO zweitveröffentlicht.
Teil 1: Lauter, bitte!
Teil 2: Das Publikum vergisst rasch
Teil 3: Politik – mit und ohne Etikett
Teil 4: Facebook im Sinkflug?
Teil 5: Schneidet die alten Zöpfe ab!
Teil 6: Geschlechterklischees in den Medien
Teil 7: Alarm für die Demokratien
Teil 8: Mythen prüfen!
Teil 9: Oligarchie in Wikis?
Teil 10: Weg mit den Mogelpackungen
Teil 11: Offen und traditionsbewusst in die Zukunft
Teil 12: Mit Twitter zum Wahlsieg
Bildquelle: Screenshot
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